Archiv der Kategorie: Familie

Eine Welt in zehn Minuten

iMist. Ich bin vier Minuten zu spät. Vor dem Abholen meiner beiden Bengelchen wollte ich im Raiffeisen-Markt eben noch ein paar Rollen „Gelbe Säcke“ besorgen. Vier Minuten … Ich bin ohnehin nicht besonders gut drauf, es treibt mir beinahe die Tränen in die Augen. Will denn heute gar nichts gelingen?

Es ist ein sehr warmer Junitag, 27 Grad, und morgen soll es sogar noch heißer werden. Ich bevorzuge 25 Grad. Da fühle ich mich wohl … Ich schiebe eine klebrige Haarsträhne von meiner Stirn und will wieder aufs Fahrrad steigen.

Eine alte, in einen feinen, hellen Anzug gekleidete Dame nähert sich mir. Ich schätze sie auf Ende siebzig oder vielleicht achtzig. „Ist da jetzt ernsthaft zu?“, höre ich sie sagen. „Ich habe dort drinnen eben meine Autoschlüssel auf dem Empfangstresen liegen gelassen. Das darf doch nicht wahr sein …“ Sie zeigt auf einen kleinen roten Peugeot auf der anderen Straßenseite.

Kurzentschlossen zücke ich mein Handy, googele die Telefonnummer und rufe im Markt vor uns an, vielleicht ist ja gerade noch jemand im Büro? Sehr wahrscheinlich ist es ja. Das Licht brennt jedenfalls noch … Aber: Leider habe ich keinen Erfolg und sage bedauernd zu der Dame: „Es tut mir leid, niemand da, wahrscheinlich alle schon in der Mittagspause.“

Sie trägt eine Maske, aber ich erkenne ein trauriges Glitzern in ihren Augen. „Ich bin so durch den Wind. Letzte Woche ist mein Sohn verstorben; ich bin 82, es ist furchtbar, wenn das Kind eher geht.“
Ich fühle ihr Leid, streiche ihr über den Arm und sage, wie gern ich sie jetzt umarmen würde, aber, naja, Corona …

Sie nickt. „Das ist so lieb. Und so selten.“ Ich wundere mich über diese Worte. Ist das nicht eine absolute Selbstverständlichkeit? „Die Leute wollen keine Trauer bei anderen sehen, sie können das Grauen nicht ertragen.“ Die Frau zuckt die Achseln. Darüber muss ich noch einmal in Ruhe nachdenken …

Sie bedankt sich für meine Bemühungen und erzählt: Der Sohn, etwa sechzig Jahre alt, sei geistig behindert gewesen, sie wäre bei seinem Sterben dabei gewesen, genau wie seinerzeit bei ihrem Mann, der mit 42 einem Hirntumor erlag. „Kurz vor dem Tod dachte er, er müsse sich noch einmal ausleben“, sie schaut bedrückt auf ihre beigen Lederschuhe. „Er hatte noch mal eine andere Frau, lebte etwas Jugend. Ich war zu Hause mit Tochter und Sohn und ertrug es irgendwie … Dann kehrte er zum Sterben zu mir zurück.“ Wir weinen. Zusammen.

Und dann platzt es aus mir heraus. Ich rede von einem derzeitigen, ganz anderen Dilemma, aus dem ich einfach nicht herauskomme. „Oh Gott, Kindchen. Das ist wirklich schwierig. Sie sind noch jung … Das Leben ist zu kurz … Hören Sie auf Ihren Bauch. Aber vergessen Sie bei allem den Verstand nicht. Lassen Sie sich Zeit und Raum, überstürzen Sie nichts. Wägen Sie sorgfältig ab.“ Natürlich hilft mir das jetzt nicht. Aber ich denke über die Weisheit des Alters nach, die mir schon so oft in meinem Leben begegnete …

Doch dann fügt sie mit einem schelmischen Augenzwinkern hinzu: „Und manchmal, Liebes, entscheidet auch das Schicksal!“ Auf einmal wirkt sie regelrecht heiter. „Ist so. Wirklich. Haben Sie Vertrauen.“
Ich muss leider los, P. und dann K. holen.
Eine ganze Welt in nur zehn Minuten …
Wir wünschen uns alles Gute. „Bitte fahren Sie gleich vorsichtig.“
Und jede geht wieder ihres Weges.

„Mensch-Ärgere-Dich-Nicht“ aus Duplo

Coronazeit ist Kreativzeit (ja, wir wissen: unter anderem … ): Um der vielen Zeit zu Hause sinnvoll Herr (oder in diesem Fall eben Frau) zu werden, lasse ich mir gemeinsam mit den beiden Jungen eine Menge einfallen – sehr oft ergibt sich das aber ganz von selbst. So sagte neulich beim „Mensch-Ärgere-Dich-Nicht“-Spielen mein Siebenjähriger: „Mama, wir können doch auch mal so ein Spiel aus Duplo bauen und dann mit den Tieren oder Püppchen spielen!“ Was für ein schöner Einfall. Gesagt – und kurzerhand getan. Hier eine Nachbauanleitung in Wort und Bild.

Schritt 1: Platte und Steine zurechtlegen

Man nehme eine große, quadratische Legoplatte und jede Menge Duplo-Bausteine in allen möglichen Formen, vor allem aber die quadratischen mit den vier Noppen. Die Kinder entscheiden sich – ganz klassisch – für Rot, Grün, Blau und Gelb. Das „Drumherum“ bilden jede Menge andere verfügbare Farben. Die Jungs haben freie Hand, wir werden sehen, was da dann entstehen wird. Zuerst einmal schnappen sie sich unser Spiel von eben und schauen sich seinen Aufbau an. Aus wie vielen Steinen bestehen der Weg sowie die Start- und Zielpunkte? (Für die ganz kleinen Spieler wählt man am besten nur einen Punkt sowohl für den Aus- als auch für den Eingang. Dann kann das Kleinkind beispielsweise mit großen, schön griffigen Tierfiguren wie der Giraffe oder dem Eisbären spielen.)

Schritt 2: Los geht es mit dem Bauen

Meine beiden – bald acht und bald fünf – überlegen, ob sie die Steine zusammen oder mit einer Lücke dazwischen stecken. Nach ihrem Plan sollen die Steine eng beieinander stehen. Aber auch hier gilt natürlich: jeder, wie er möchte. In die Mitte der Platte kommt „etwas Schönes“, sagt K. Erst ist es ein einfacher, orangefarbener Baukegel, dann eine Spielfigur auf einem „Thron“. Dies wird sich im Verlauf der Bauaktion noch mehrfach ändern. Dann machen sich die Bengelchen an den Weg, sie wählen kunterbunte Steine aus. Die Zielpositionen gestalten die Jungs wieder in einheitlichen Farben, „zur besseren Übersicht, Mama.“ Klar. Habe ich verstanden …
Die Figuren sollen bei einer Sechs auf den Ausgangspunkt „rutschen“. Das tun sie über Steine einer Murmelbahn.

Schritt 3: Verfeinern und Schmücken

Jetzt sind sie mit ihrer „Landschaft“ fertig – soweit jedenfalls. „Mama, wir müssen noch dekorieren!“ K. schnappt sich ein paar Duplo-Blümchen. Kurz – und schön mit anzuschauen: Die beiden hängen sich voll rein, stecken noch einmal ein paar Steine um, verlieren sich noch eine Weile mit „Nachbesserungen“. (Ich gebe zu: Ich staune und staune immer wieder über die Kreativität der Zwerge und darüber, wie sie mit wirklich simplen Materialien Tolles schaffen.)

Schritt 4: Auf die Plätze – fertig – Spiel?

Jetzt ist das Spiel zu ihrer Zufriedenheit aufgebaut, der Würfel liegt bereit. Und jetzt können wir ja dann auch mit dem „Mensch-Ärgere-Dich-Nicht“ loslegen – nicht.
Dass die Kinder vor dem eigentlich Spielen jetzt zunächst einmal frei mit Figuren und Fahrzeugen „testen“ müssen, ob auch alles fest sitzt und funktioniert, leuchtet natürlich ein. „Gleich, Mama. Die Figuren wollen erst noch rutschen.“ Na dann …
Frohes Nachbauen und Spielen.

Dieser Text ist am 10. Mai ebenfalls bei „Hallo:Eltern“ erschienen.

Ballett statt Fußball?

„Ballett ist kraft- und anspruchsvoll, es ist richtig dynamisch“, schwärmt mir meine Freundin Christina bei einem Milchkaffee in unserem Garten vor. Sie ist Ballettlehrerin mit eigener Schule in Rastede bei Oldenburg. „Und das ist auch der Grund, warum Jungs hier eigentlich gut aufgehoben sind.“
Eigentlich? Die Mittvierzigerin schürzt nachdenklich die Lippen. „Weißt Du, von meinen knapp achtzig Schülern sind genau zwei männlich. Es sind Brüder, die sich beim Unterricht der Schwester ins Ballett verliebt haben.“ Der ältere der beiden tanzt mittlerweile drei Mal in der Woche: Ballett und Flamenco.
Warum machen das eigentlich so wenige Jungs? „Hierzulande gibt es leider immer noch so viele Vorurteile hinsichtlich des Jungenballetts“, erklärt Christina. Und ganz nebenbei bemerkt kann ich mir P. und K. tatsächlich nicht so richtig dabei vorstellen …

Während des Gesprächs kommt Christinas Tochter angerannt, P.s Freundin mit P. im Schlepptau. Die Fünfjährige tanzt ebenfalls seit einer Weile. Das Mädchen mit dem frechen, blonden Kurzhaarschnitt führt uns etwas vor, strahlt dabei über das ganze Gesicht wie ein Honigkuchenpferd. Dann läuft sie wieder davon. P. flitzt natürlich sofort hinterher. Und K.? Der rennt hinter P. her.
„Für Mädchen gibt es hierzulande so viele Angebote“, sagt meine Freundin. „Zum Beispiel den Girls Day. Es gilt aber auch als cool, wenn Mädchen zum Fußballtraining gehen.“ Wenn aber Jungs ihre Leidenschaft für den Tanz entdecken, sieht man überall Stirnrunzeln.“ Christina legt eine Erzählpause ein und sieht unseren drei Kids ein bisschen beim Spielen zu.

Weiter im Text. In Ländern wie Russland habe das Ballett übrigens einen ganz anderen Stellenwert. Dort sei man stolz darauf, Tänzer zu sein – ein ehrbarer Beruf wäre das. „Spätestens mit der Pubertät beginnen bei uns aber die Hänseleien“, meint Christina. „Und Ballett wirkt plötzlich irgendwie schwul.“
Was müsste denn ihrer Meinung nach getan werden, um mit diesen Vorurteilen aufzuräumen? „Ballett hat doch nichts mit Homosexualität zu tun! Es erfordert Kraft, es werden Partnerinnen durch die Luft gewirbelt. Du kennst doch den Film ‚Billy Elliot‘: Ein Vater schickt seinen Sohn zum Boxen, doch der geht heimlich tanzen und schafft es auf eine renommierte Akademie. Dieser Film jedenfalls zeigt dynamische Bewegungen, genau die gilt es herauszukehren … Schau Dir doch mal Videoaufzeichnungen vom ehemaligen Balletttänzer Mikhail Baryshnikov an; was konnte der damals springen!“ Sie könnte sich stundenlang darüber auslassen. Ich nippe an meinem Kaffee und bewundere sie heimlich.

Meine Freundin erzählt noch, dass sie gern zusammen mit ihren beiden Mitarbeitern eine solche Jungsballettklasse ins Leben rufen würde. „Zu Beginn, bei der tänzerischen Früherziehung, unterscheidet sich der Ballettunterricht von Mädchen und Jungen noch nicht sehr. Es werden Elemente der russischen Waganowa-Methode und der englischen Royal Academy Of Dance miteinander kombiniert. So können wir individuell auf die Bedürfnisse der Schüler eingehen und sie fördern. In unseren Klassen legen wir Wert auf das Zusammenspiel von Technik, Athletik, Kreativität und Musikalität.“
Und später dann? „Ab dem siebten oder achten Lebensjahr gibt es schon so einige prägnante Unterschiede. Aber nur kurz: Hier bekommen Jungs bei uns den Raum für dynamischere und kraftvollere Bewegungsabläufe, den sie ja auch brauchen.“ Christina macht eine entsprechende starke Geste mit ihrem Arm. Schon wieder himmele ich sie an. Meine Powerfreundin mit dem feinen Herzen.

„Ich bin ein Hexenjäger!“, tönt es lauthals durch den Garten. Das Töchterchen kommt mit funkelnden Augen und zerzaustem Blondschopf angerannt, ein erhobener Stock dient ihr als Schwert. Ihre Mutter lacht herzhaft; der Stolz steht ihr ins Gesicht geschrieben.
„Da, siehste!“, Christina wird jetzt auch richtig laut. „Genau das dürfen heute alle Mädchen sein: Hexenjägerinnen, Rennfahrerinnen, Ritterinnen … Und was fehlt?“ Kurze Erzählpause, dann ein Grinsen: „Der singende, springende Prinz!“

Informationen:
Christina Bayer, Oldenburg, 0441/3044038