17. April – Tag 1
Gut geschlafen und wohl auch nichts vergessen. Mein Liebster bringt mich zum Flughafen. Ich bin bereit für meine Reise nach Colorado. Der Flieger von Berlin Tegel nach Newark Liberty International Airport ist es aber noch nicht. Er hat über eine Stunde Verspätung. Das fängt ja gut an. Noch zweieinhalb Stunden warten. Ich habe viel zu früh eingecheckt und spüre Müdigkeit und Langeweile meinen Kopf durchströmen. Einfach ignorieren. Ich wandere mit gefühlten Streichhölzern in den Augen durch den Flughafen und besorge mir nach etwa einer Stunde zwei Dosen Bier. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal Bier aus einem Blechbehälter getrunken habe.
Noch eineinhalb Stunden warten. Ich lasse mich irgendwo an meinem Terminal gemütlich nieder. Dabei nippe ich dann und wann am kühlen Getränk, das – gut versteckt im undurchsichtigen Metall – auch eine beliebige andere Flüssigkeit hätte sein können. Bei diesem Gedanken wird mir kurz übel. Ich sehe diverse Möglichkeiten direkt vor meinen Augen lebendig werden. Doch der Geschmack ist unverkennbar: Es handelt sich um ein leckeres Warsteiner. Die Übelkeit verschwindet. Menschen ziehen vorüber oder stehen am Check In. Vorfreude, Traurigkeit oder Eile stehen ihnen ins Gesicht geschrieben.
Eine Weile später kommt die Durchsage für meinen Flug. Ich packe meinen roten Moleskine-Kalender ein, den mir der Liebste zum Jahresanfang geschenkt hat. Auch das Schreibwerkzeug, mein Handy und das zweite Bier verschwinden in den Untiefen des Rucksacks. Ich muss dringend zum Boarding. Und auf die Toilette. Schon wieder bin ich zu spät dran. Diesmal wollte ich es doch anders machen. Etwas angeheitert betrete ich den Sicherheitsbereich. Ich lege meinen Rucksack und meine Jacke in ein dafür vorgesehenes Behältnis. Habe ich etwas vergessen? Oh, ja, der Gürtel! Ausziehen, andernfalls wird es piepen. Und ich bin doch niemand, bei dem es piept. Grinsend gehe ich durch den torähnlichen Menschenscanner. Als ich auf der anderen Seite ankomme, freue ich mich, denn ich habe sie unbeschadet erreicht.
Doch natürlich kommt wieder einmal alles anders. Ein Angestellter findet meine Bierdose. Mist, ich hätte wissen müssen, dass sie nicht in den Rucksack gehört. „Entweder, Sie trinken das Bier draußen oder Sie werfen es weg“, lautet sein Kommentar. Ich zeige ihm einen unsichtbaren Stinkefinger und beschließe, das Zeug zu trinken. Ich wandere wieder in den Check In-Wartebereich und trinke es in vollen, extrem schnellen Zügen aus. Dann wende ich mich erneut dem Sicherheitsbereich zu. Erneut passiere ich ihn – wie ich glaube – erfolgreich. Doch schon wieder kommt alles ganz anders, und der Verdacht, dass ich dieses Land niemals verlassen können werde, überfraut mich. Eine der Angestellten schaut mich ernst an. Klar, bestimmt ist sie sauer, dass ich so selbstzufrieden vor mich hin grinse. Das tue ich dann noch expliziter. Bis sie folgendes sagt: „Würden Sie bitte mit mir kommen? Ich muss Sie einer gesonderten Sicherheitskontrolle unterziehen“. Mein Grinsen löst sich in Luft auf.
Ich frage die Angestellte, warum das denn sein müsse. Ihre Antwort: „Weil ich es so sage“. Sie ist mir fast schon sympathisch. Ich laufe ihr also gezwungenermaßen hinterher wie ein bescheuerter Dackel, der jegliche Kontrolle über sich selbst verloren hat, stolpere dann und wann oder laufe gegen eine Wand. Ich hätte etwas essen sollen. Dass mich ein einziges Bier hat so bedüselt werden lassen, finde ich lustig. Meine Grinsen beherrscht mich. Ab und zu ernte ich einen strengen Blick von Mrs. Aufseher, die ihre Stirn so sehr in Falten gelegt hat, dass ich mir Sorgen um sie mache. Aber die Sorgen halten nicht lange an. Ich sehe mich schließlich in der Gegenwart von zwei weiteren drolligen Aufsehern gegenüber, die mein Bestes wollen: meinen Fotorucksack. Der eine ist um die 50, mit ergrautem Haar und Bierbauch, der andere ist Mitte 20 und lächelt mich unverschämt an. Ich weiß genau, was er will. Ich grinse zurück – in einer Art, die ihm suggerieren wird, dass er „das“ nie bekommen wird. Sein Lächeln erstirbt auf seinem unholden Antlitz.
Es ist angerichtet: Ich habe die gesonderte Kontrolle überstanden, in meinem Fotorucksack wurden weder Handgranaten noch Briefbomben oder sonstige Waffen in Kameraform gefunden. Ich passiere erneut den Sicherheitsbereich.
Ankunft in Newark ist gegen 13.25 Uhr. Ich muss durch die Passkontrolle und den Zoll. Ein Erlebnis für sich. Erst einmal stehe ich fast eine Stunde an, bis ich durch die Passkontrolle kann. Während dieser Zeit ziehe ich mein Handy, schalte es ein und sehe nach, ob ich Nachrichten habe. Plötzlich schreit der Angestellte des Schalters, an dessen Schlange ich stehe: „Heeeeey. Turn your cell phone off! It’s not allowed to use it here!“. Uha. Circa 300 Menschen richten ihre – Pi mal Daumen gerechnet – 600 Augen auf mich. Mir wird leicht schwindelig. Ich nicke und zwinge mich zu einem unfreundlichen Lächeln. Mein cell phone verschwindet in der rechten hinteren Hosentasche. Als ich dann nach weiteren 15 Minuten Wartens endlich an der Reihe bin, schaut mich der Angestellte noch einmal zornig an und weist mich noch einmal darauf hin, dass ich mein Handy hier nicht einzuschalten habe.
Die Menschen am und im Airport sind zum Erbrechen unfreundlich. Man kann ihnen an ihren Gesichtern ablesen, dass es mühselig für sie ist, sich auch nur zu einem Lächeln zu zwingen. Doch umso leichter fällt es ihnen, den sensiblen Reisenden ihre Genervtheit spüren zu lassen. Ich beschließe, bei dem Spiel mitzumachen und rempele ein paar Leute an.
„Do not leave your baggage unattended…“ ertönt es alle 15 Minuten aus den Lautsprechern – was für eine Schlafzimmerstimme diese Frau hat, die sich für diese Ansage hingegeben hat. Wie sie wohl aussehen mag? Sicher ist sie extrem sexy und der Traum so manch schlafloser Männernächte. Vielleicht ist sie aber auch grottenhässlich und das einzig Schöne, das sie hat, ist ihre Stimme. Und deswegen zeigt sie nur diese und nicht sich selbst. Ich ziehe die Schnüre der Schultergurte meines Rucksacks enger und begebe mich auf die Suche nach Bier. Ich bin weit gereist und durstig. In dem wahrscheinlich einzigen Flughafenpub des Airports trinke ich ein „Amstel light“, doch bis es soweit ist, muss ich noch einiges an Strapazen ertragen…
Ich zahle horrende 7,22 Dollar. Wucher. Ein paar junge Männer lassen sich ungeniert über den Hintern einer Frau aus. Sie sehen, dass ich die Stirn runzele und grölen erst recht weiter. Geschmacklos. Ganz im Gegensatz zu dem Bier, das ich dauernd an meine Lippen setze. Doch es ist nichts im Vergleich zu einem kühlen Warsteiner, finde ich. Ich stehe an einen Oldtimer gelehnt, der dort zur Zierde steht. Sein Dach ist total verstaubt, es ist schade um den Wagen, der eigentlich eine Augenweide sein sollte. Ich habe Mitleid mit ihm. Das Bier habe ich bereits ausgetrunken. 0.33 Liter. Das ist nicht viel. Ich hätte gern noch eins, finde es aber zu teuer und setze meinen Erkundungsgang durch den Terminal fort.
Der Flughafen ist wie ein riesiger Marktplatz. Hier gibt es alles. Sogar „Shoe Shine“: Zwei Schwarze, ein Junge und ein Mann, putzen einem weißen und einem schwarzen Geschäftsmann die Schuhe und bohnern an ihren Schuhen herum, bis die letzte Mattigkeit von ihnen gewichen ist.
Ich setze mich in den Wartesaal. Noch zwei Stunden. Müde. Neben mir sitzt eine kleine Familie, bestehend aus Mutter, Vater und Baby. Die Frau schaut das Kind liebevoll-fasziniert an. Die Durchsage „I need two additional volonteers“ erschüttert mich. Die Flughafenmitarbeiterin sucht händeringend nach Reisenden, die sich dazu überreden lassen, erst morgen zu fliegen, und als Entschädigung dafür eine Übernachtung in einem Hotel, ein Dinner erhalten. Wohlstandsglücksrad.
Ich lande völlig verspätet gegen 19.45 Uhr Ortszeit in Denver. Nach 15 Minuten habe ich mein Gepäck, und die Flughafenmetro hat mich zum Warteareal gebracht. Meine jüngere Schwester steht im Ausgangsbereich – strahlend bis über beide Ohren. Knapp 30 Sekunden später liegen wir uns weinend in den Armen. Wir haben uns zehn Monate nicht gesehen.
Wird fortgeführt.