Der Zug ist abgefahren

Freitagmittag, 12.00 Uhr. Berlin Hauptbahnhof. Von hier aus startet meine Reise in den wunderschönen Norden, genauer gesagt: nach Bremen. In Hannover muss ich einmal umsteigen – in den Zug nach Norddeich Mole. Voller Vorfreude stehe ich am Gleis und warte auf meine Bahn.

„Der Zug [blabla] über Hannover [blablablaaa] verspätet sich um voraussichtlich zehn Minuten.“
War ja klar. Ich verdrehe die Augen. Naja, ist ja nichts Neues. Ich setze mich wieder – und warte weiter. Was kann ich auch anderes tun? Essen! Ich krame mein Sushi To Go aus der Tasche und mache es mir gemütlich. Gerade als ich meinen ersten Bissen zu mir nehmen möchte – er ist bereits mit Wasabi und Sojasauce präpariert -, fährt der Zug ein. Er hat doch nur zwei Minuten Verspätung. Ich seufze laut, ein älterer Herr neben mir hat die Szenerie beobachtet. Er lacht auf. „Na, dann essen Sie eben in Ruhe im Zug. Ist doch eh bequemer.“

In Ruhe. Ruhig ist es nicht im Zug. Bequem? Alles andere als das: Der InterCity ist total überfüllt. Und dann auch noch eine Schulklasse mit Teenagern um die 15 Jahre. Ich gehe von Waggon zu Waggon und suche nach Schildern mit der bekannten Aufschrift: ggf. freigeben.
Ich habe einen Platz gefunden, lasse mich nieder und warte beklemmt auf eine Stimme, die sagt: „Leider müssen Sie aufstehen, das ist mein Platz.“ Ich werde dann einfach sagen: „Mach mal die Augen zu, dann siehst Du, was Dir gehört!“ Ich grinse vor mich hin. Ein Junge um die 20 setzt sich neben mich. „Ist hier noch frei?“, fragt er erst dann. Ich grinse weiter – wenn ich schon mal dabei bin. Ich nicke. „Na jetzt nicht mehr.“

„Das da ist leider mein Platz“, sagt sie, deutet auf mich beziehungsweise meinen Sitz und schaut ein bisschen bedröppelt. Der rothaarigen Dame mittleren Alters ist es offensichtlich unangenehm, mich vertreiben zu müssen. Ja, mir jetzt aber auch! Die geplante Antwort für diesen Fall verklemme ich mir aber doch.
„Lass mal, ich geh schon“, sagt der junge Kerl neben mir. „Du warst zuerst hier.“
„Ja, aber Du sitzt ja nicht auf dem falschen Platz …“ Ich stehe auf.
„Egal. Ich such mal meine Jungs.“ Weg ist er.

Die Rothaarige ist sehr neugierig und fragt mich Löcher in den Bauch. Wohin ich denn fahre, woher ich denn komme, was ich denn so mache. Und das, obwohl ich ein Buch vor mir habe.
„Entschuldigen Sie, ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich würde jetzt gern etwas lesen.“ Ich zeige offensiver auf mein Buch.
Sie schaut mich entsetzt an, dann schaut sie eingeschnappt weg – und redet nicht ein einziges Wort mehr mit mir. Jetzt bin ich entspannt.

Hannover Hauptbahnhof! In fünf Minuten geht es mit dem Anschlusszug weiter nach Bremen. Mensch, das läuft ja doch ganz gut.
„Der Zug [blabla] nach Norddeich Mole über Bremen [blaaaa] hat voraussichtlich zehn Minuten Verspätung.“ Na bravo. Nicht zu fassen. Ich setze mich in Ruhe auf eine Bank am Bahnsteig, lese und esse endlich mein Sushi. Lecker! Das entschädigt für die dauernden Verspätungen.

Als nach drei Minuten langsam ein Zug an mir vorbeifährt, schaue ich auf.  Norddeich Mole. Aha. Norddeich Mole!? Aaah! Das ist doch – mein Zug! War er wohl doch pünktlich … Ich ärgere mich kurz, dann gehe ich zum Abfahrtsplan und sehe eine Verbindung, die fünfzehn Minuten später geht. Mit dem ICE. Das ist meine, und die krieg ich – koste es, was es wolle!

Es kostet nichts: Nachdem ich mich im ICE lautstark über die Deutsche Bahn beschwert habe, muss ich keinen Zuschlag zahlen. Ich schließe die Augen, innerhalb von wenigen Minuten schlafe ich ein. Reisen ist anstrengend.

Bremen Hauptbahnhof. Geschafft! Am Kiosk kaufe ich mir noch schnell den neuen SPIEGEL. Auf dem Cover zu sehen: Thilo Sarrazin. Der arabische Verkäufer schaut mich grinsend an. „Völlig übertrieben, was die Medien da draus machen. Die Deutschen nehmen alles viel zu ernst.“

Ich verlasse den Bahnhof. Endlich am Ziel.

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