Heute laufe ich nach Hause. Wie gewöhnlich die U-Bahn nehmen? Oh nein, viel zu wenig sieht man, viel zu wenig riecht man – tausende Male schon genutzt. Mein Herz braucht Luft heute. Ich muss ihm mehr Raum für seine Energie geben. Und… den Bus nehmen? Ich zögere kurz, denn oft mache ich das nicht. Nein… Heute laufe ich! Niemand hetzt mich, und zu meiner Freude erwartet mich da draußen ein gespenstisch anmutender, unheimlich nebliger Fastwintertag. Ich bin sicher, dass das Abenteuer dort draußen auf mich wartet.
Wo beginnt er nun, dieser Marsch? Ganz spontan, ganz unkonventionell, ganz unrollend bahnt er sich seinen – zugegeben noch etwas spastischen – Lauf vom emsig umgarnten, pseudoweihnachtsfreudig und kommerziell angestrahlten Ort, dem Potsdamer Platz, an dem sich von früh bis spät Geschäftsleute in Spitzenklasseanzügen und edelweiblichen Kostümchen tummeln, bis nach Hause.
Ich biege in die Leipziger Straße ein, die – wie immer – bis zum Erbrechen mit Autos verstopft ist. Ich bin froh, dass ich nur meine zwei – wenn auch langen – Beine und keine Räder habe, die ich durch das hupende Gekröse schleusen muss. Oh. Und ich war schlau und habe mir Musik in die Ohren geklemmt – synthetische Musik. Ich grinse, und ich laufe los.
Ich laufe geradeaus die Leipziger entlang, doch irgendwann nehme ich einen Umweg über die Wilhelmstraße – vorbei am U-Bahnhof Mohrenstraße. Dort habe ich einmal in einem alten und gebrechlichen Auto gesessen, vertieft in einen Moment, der einer der schönsten in meinem Leben war. Dort befindet sich auch ein Kaisers – in dem habe ich anschließend voller Freude eingekauft. Heute gehe ich nicht hinein. Ein bisschen Nostalgie, und doch: satt erfüllte Sehnsucht. Meine orangefarbene Tasche taschiert meinen Hintern, ein bunter Schal kitzelt mein Kinn.
Als ich die Friedrichstraße erreiche, biege ich wieder rechts ab und befinde mich, nachdem ich den Bahnhof Stadtmitte erreicht habe, wieder auf der Leipziger Straße. Nach beinahe neun Jahren Berlin kenne ich mich mehr als gut aus in dieser niemals schlafenden, tosenden, wütenden, atemberaubenden Metropole. Ich liebe ihren Zorn. Hier möchte ich sein. Das wird mir mehr als bewusst in diesem Moment.
Ich habe – das ist nun viele zehn Minuten her – inzwischen den U-Bahnhof Spittelmarkt erreicht. Selbst er erinnert mich an kurze, doch intensive, kleine Begebenheiten. Die Leipziger Straße wird hier zur Gertraudenstraße. Irgendwann, ich habe inwischen die Alexanderstraße mir zur Linken, die imposante Karl-Marx-Allee und die Mollstraße überquert, erreiche ich die Otto-Braun-Straße und laufe vorbei an (n)ostalgischen Plattenbauten. Hier glitzert, wohin das Auge blickt, konservativer Weihnachtsschmuck in den alten Fenstern. Ich liebe sie in diesem Moment.
Ich muss lächeln und drehe die Musik lauter. Ich denke an Rügen, an die kleinen ungemütlichen und so verloren wirkenden Plattenbauten, die man sieht, wenn man von Stralsund in Richtung Ostseebad Sellin fährt. Ich denke an ein kleines Mädchen. Sie ist neun Jahre alt. Ein Onkel von „drüben“ ist zu Besuch. Gemeinsam macht man eine Fahrt nach Kap Arkona. Es ist windig dort, nein, stürmisch. Das Mädchen ist blass und mager, sie schaut ihren Onkel vertrauensvoll an. Er nimmt sie in die Arme und drückt sie fest an sich. Sie ist glücklich.
Covenant. VNV Nation. Daft Punk und Pink Floyd. Ich drehe die Musik lauter und erreiche irgendwann die Straße, in der ich lebe: die Greifswalder Straße im Prenzlauer Berg. Jetzt bin ich bald da. Mein Kiez. Noch immer die synthetische Musik im Ohr, wippenden Schritts, im Takt der Musik mal ein Bein nach vorn werfend – und mich fast wie eine kleine Diva fühlend -, lächelnd, den Kopf nach rechts und links bewegend, das Haar verweht im winterlichen Wind.
Allein mir selbst – inmitten flippiger Mädchen mit langen, dicken, buntgestrickten Schals und coolen Typen mit unkonventionellen Ripcaps. In diesem Moment bin ich glücklich – bis über beide Ohren. Ich bin jung.