Archiv der Kategorie: Literatur

Hermann Bauer: „Die einbeinige Ente“

Erika und Dieter führten seit 15 Jahren eine Entenfarm. Auf einem riesigen Freilaufgelände, umgeben von saftig grünen Hügeln und kristallklaren Seen, hatten die Enten – anders als die meisten ihrer Artgenossen – das Paradies auf Erden, auch wenn ihr Leben nur von kurzer Dauer war.

Erika erlebte es immer wieder, dass Kunden, die Enten bei ihr kauften, auch nach Kochrezepten fragten. Erika gab als exzellente Köchin gerne ihre in vielen Jahren gesammelten Erfahrungen und Zubereitungstipps weiter. Sie machte kein Geheimnis daraus und hatte ihre besten Rezepte aufgeschrieben, fotokopiert und zu einer kleinen Broschüre zusammengeheftet, die sie den Kunden kostenlos mitgab. Mit Vergnügen bekochte Erika auch ihre Familie. Sie gab sich dabei große Mühe, verwendete edle Kräuter, garnierte ideenreich, deckte den Tisch schön und zündete gelegentlich Kerzen an. Für ihre zwei Kinder war dies selbstverständlich und nicht der Rede wert. Für ihren wortkargen Ehemann Dieter war das Speisen nichts anderes als das Vergeuden wertvoller Zeit, die von der vielen Arbeit abging. Während Dieter die Gerichte hastig verschlang, las er nebenbei Zeitung oder war in das Radioprogramm vertieft.

Manchmal fragte Erika in die gefräßige Runde: „Schmeckt es euch?“ Die Kinder und Dieter meinten dann originell oder witzig zu sein, wenn sie abgedroschene Sprüche von sich gaben, wie „Der Hunger treibt’s rein.“ oder „Wenn man Hunger hat, ist man nicht wählerisch.“

Diese Unverschämtheiten waren für Erika auf Dauer unerträglich. Die von ihrer Familie maßlos enttäuschte Frau vertraute sich in dieser Sache einer guten Freundin an, die dieses Problem ebenfalls kannte und die damals bei ihrer Familie auch eine Lösung gefunden hatte. Die beiden Frauen heckten gemeinsam einen Plan aus …

Beim nächsten Entenbraten, den Erika auftischte, servierte sie nur eine Entenkeule. Das andere Bein aß Erika schon vorher auf, denn sie schätzte den herrlichen Geschmack des Beinchenfleisches. Das machte sie auch weiterhin so. Auch bei anderen Gerichten, die sie genauso zauberhaft zubereiten konnte, pickte sie sich immer schon vor dem Auftischen die schönsten Stücke selbst heraus.

Ein oder zwei Jahre vergingen, ohne dass ihre Familie sich dazu äußerte. Die Schnellesser hatten es bestimmt bemerkt, da war sich Erika ganz sicher. Keiner aber hatte sich dazu geäußert. Eines Tages tischte Erika wieder einen Entenbraten auf. Diesmal platzte Dieter der Kragen, und er schimpfte: „Wo ist die zweite Keule?“ Erika schaute Dieter erstaunt mit großen Augen an und sagte: „Was für eine zweite Keule? Auf unserer Farm haben wir nur einbeinige Enten. Ist dir das noch nie aufgefallen?“
Dieter wurde noch wütender. „So ein Blödsinn. Das habe ich noch nie gesehen. Eine Ente mit nur einem Bein.“
„Wenn du es nicht glaubst, dann können wir gerne nachsehen“, sagte Erika.
Dieter stand auf, und beide sahen nach den Enten. Es war schon Nacht. Und tatsächlich, die Enten standen auf einem Bein.

Dieter lachte: „Das ist ganz normal, dass Enten, während sie schlafen, ein Bein anziehen. Trotzdem haben sie zwei Beine.“ Dieter klatschte mehrmals in die Hände und die Enten liefen mit zwei Beinen davon. Dieter, immer noch voller Wut im Bauch, schrie Erika an: „Was sagst du jetzt? Sie haben doch zwei Beine! Welches Spiel spielst du mit mir?“
Erika blieb ganz ruhig. Sie wusste nicht, ob Dieter sie überhaupt verstehen würde. Dieter merkte ihr allerdings schon ihre Verzweiflung an, als sie mit Tränen in den Augen flehte: „Siehst du, mit einem Applaus haben die Enten natürlich zwei Beine. Auch ich hatte jahrelang nur ein Bein, weil ich nie Anerkennung und Liebe bei dir und den Kindern fand. Obwohl ich beim Kochen und Zubereiten immer mein Bestes gab und keine Mühe scheute, habt ihr noch nie meinen Entenbraten gelobt.“

 

„Die einbeinige Ente“ – Zeichnung: Franziska Kuo

Wahn und Rotwein

Siri Bergmann ist 35 Jahre alt und eine erfolgreiche Psychotherapeutin in Stockholm. Die kleine, zierliche Frau arbeitet in einer Gemeinschaftspraxis mit zwei weiteren Psychotherapeuten. Siri lebt in einem kleinen Haus direkt am Meer. Abends geht sie ein paar Runden schwimmen und genehmigt sich anschließend ein Glas – oder auch mal mehrere – Rotwein. Nur ihre Katze leistet ihr Gesellschaft. Klingt zunächst idyllisch, und das könnte es auch sein, wäre da nicht diese ständige Angst vor der Dunkelheit. Siri schläft bei brennendem Licht.

Mit menschlichen Schicksalen hat Siri Bergman täglich zu tun, auch wahre seelische Abgründe tun sich ihr auf. Nur ihre eigenen hat sie nicht unter Kontrolle: Siris Ehemann ist vor ein paar Jahren bei einem Tauchunfall gestorben, seitdem geht es ihr zunehmend schlechter. Und sie fühlt sich beobachtet. Sie erhält einen Brief mit der Nachricht „Ich sehe Dich.“ Und eines nachts erwacht sie in der Dunkelheit. Jemand hat den Sicherungshauptschalter ausgemacht. Aber Siri redet nicht darüber. Mit niemandem.

Im Wasser vor ihrem Haus wird eines Tages die Leiche einer ihrer Patientinnen gefunden, und alles deutet zunächst auf Selbstmord hin. Siri lag viel an dieser jungen Frau, die sich – ihrer Ansicht nach – niemals selbst umgebracht hätte … Wenig später die Gewissheit: Es war Mord. Jetzt redet Siri. Auch mit der Polizei.

Was ist passiert? Und was hat das alles mit Siri zu tun? Eine Antwort auf diese Frage gebe ich an dieser Stelle nicht. Nur soviel: Psychotherapeuten machen Fehler. Fehler, die sie nicht vorausahnen und deren Konsequenzen sie nicht abschätzen können. Wie denn auch: Sie sind ja auch nur ganz normale Menschen. Bleibt mir gerade noch der Hinweis darauf, dass dieser schwedische Thriller eine Wucht und absolut lesenswert ist. Das hier ist ein Buch, das ich in nur wenigen Tagen – also fast in einem Rutsch – regelrecht verschlungen habe. Fünf von fünf möglichen Sternen!

Die Therapeutin

Du bist „the real shit“ – sei stolz drauf!

Liebe Sarah Kuttner,

man kennt Dich als die Quasselstrippe der Nation. Immer heiter, immer froh, immer etwas labernd, egal wo, egal wann. Ich habe heute Dein Buch gelesen, Du weißt schon, Mängelexemplar. In einem Rutsch habe ich das getan, weil es gar nicht anders ging. Weil vieles von dem, was ich da in Form von gedruckten Buchstaben vorfand, mich dermaßen an mich selbst und mein Leben vor einiger Zeit erinnerte.

Ich konnte Dein Buch gar nicht zur Seite legen. Es war mein Begleiter auf dem Klo, beim Sitzen auf der Parkbank (wo ich mir fast den Allerwertesten abgefroren habe) und dann wieder am Schreibtisch. Ja, sogar da. Dein Buch hat mich nämlich gefesselt, weil es so anders ist als Du. Dachte ich bis heute. Aber ihr zwei, ihr seid euch ähnlicher, als Du Dir einzugestehen wagst.

Ich schaue mir abends sogar Interviews aus den Zeiten an, als Dein Buch erschienen war. Du antwortest nur zweideutig. Du, die sonst immer schlagfertig ist und drauf los plappert. Unbedarft. Aber genau das ist es ja …

Wovor hast Du eigenlich Angst, liebe Sarah? Vor der Öffentlichkeit, die Panikanfälle und Angstzustände noch immer weitgehend tabuisiert oder was? Scheiß da mal drauf, die Öffentlichkeit erfährt – und sie vergisst auch wieder. Ein großer Moloch, der verschlingt, was ihm vor die Augen kommt. Und in ein paar Jahren quatscht kein Mensch mehr davon. Wovon auch immer.

Also – unter uns: von wegen Protagonistin! Damit bescheißt Du doch nur Dich selbst. Inzwischen bin ich mir sicher, dass Du das Buch autobiografisch geschrieben hast. Woher kannst Du als Angstlaie – noch dazu warst Du u30, als Du angefangen hast, das Buch zu schreiben – wissen, was eine Tavor ist?

Gute Recherche? Deine beste Freundin ist depressiv? Deine Mama, die Dich früher geohrfeigt hat und die im Roman plötzlich so schön auf Dich acht gegeben hat? Von wegen! Nein, dieses Buch hast Du geschrieben, weil Du wahrscheinlich ein Tagebuch verfasst hast, als es Dir so dreckig ging. Und dann hast Du ein Buch daraus gemacht – und es in größtenteils humoristische Worte verpackt. Ich finde das gut! Anders würde ich das auch nicht machen. Das meine ich ernst. Und ich habe es bereits getan – nur anders, in meinem „Berlin“-Buch.

Quark, sagst Du? Ich kenne Dich doch gar nicht? Stimmt. Und doch bin mir ganz sicher, dass Du eine Depression durchlebt hast. Warum? Darum. Glaub mir einfach. Und es ist ja auch keine Schande. Das Thema ist sogar zu einer Normalität geworden, wie wir sie im Fernsehen und in den Medien allgemein entdecken können: flächendeckend, fleckenbehaftet, skrupellos, selbstmitleidig (nur dann und wann), unkontrolliert, hyperventilierend, atemnötisch, bestialisch, angsteinflößend eben. Aber das ist Quatsch. Das kriegt man wieder in den Griff. Mit guten Gedanken – und vielleicht ein paar Pillen, die manchmal wirklich Wunder wirken, Tavor eingeschlossen.

In Mängelexemplar berichtest Du von einer jungen Frau Mitte oder Ende 20, die es „voll erwischt“ hat. Aber nicht etwa im verliebten Sinne, sondern mit voller Wucht hirnstoffwechseltechnisch. Sie rast mit ihrem Wagen die Angst- und Panikautobahnen dieser Welt entlang, greift dann und wann zu einer Tavor. Das ist ein angstlösendes beruhigungsmittel, das tatsächlich ein bisschen stumpf macht – habe ich mir sagen lassen. Haha. Die beste Freundin.

Sarah, Du bist enttarnt. Aber: Ich liebe Dein Buch!
Deine Coralita

Für K. H., die gerade Ängste durchmacht. Alles wird gut.