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Liebe will riskiert werden

Bei einer Freundin entdeckte ich nachfolgende Weisheit – aufgeklebt auf eine der Kanten ihres Esstischs in der Küche. Ich würde sie an dieser Stelle gern kommentarlos im Raum stehen lassen, da ihre Aussagekraft nach meinem Empfinden eigentlich auch ohne weitere Worte und explizite Interpretationen enorm ist.

Eigentlich. Vielleicht ja doch ein winzig kleiner Kommentar. Ich kann es mir ja doch nicht verkneifen.

Liebe will riskiert werden. Sie bedeutet, Kompromisse einzugehen. Liebe ist riskant. In einem Gleichnis ausgedrückt: Liebe bedeutet, sich zu öffnen wie einen Rucksack. Dort holt man oft intime Gedanken und Gefühle heraus, die man sonst vielleicht niemandem weiter preisgibt. Man packt sie in einen anderen Rucksack. In den Rucksack des anderen. Wird dieser verschlossen und fortgetragen, muss man erst wieder einen neuen Menschen finden, dessen Rucksack man öffnen kann… Man läuft Gefahr, verletzt zu werden, weil man empfindsamer geworden ist – dem Menschen gegenüber, den man so sehr liebt. Aus diesem Grund haben viele Menschen Angst vor der Liebe.

Aber Liebe ist wunderschön. Liebe bedeutet auch, wenn man – endlich – jemanden gefunden hat, mit dem man nicht nur Freude und Sorgen teilt, sondern im Schneidersitz beieinander hockend gemeinsame Pläne schmiedet. Mit dem man lacht bis zum Umfallen… Wahre Liebe bedeutet für mich im Grunde alles zusammen: freundschaftliche, brüderliche bzw. schwesterliche, väterliche bzw. mütterliche, töchterliche bzw. brüderliche Gefühle – verbunden mit körperlicher Leidenschaft.

Du sitzt mir gegenüber …

Inzwischen fahre ich nicht mehr nur mit der Bahn, sondern oft mit dem Auto zur Arbeit. Das eröffnet mir zwei verschiedene Perspektiven: Berlin sehen an der Oberfläche und im Untergrund. Das Zugfahren wird dabei wieder zu etwas Besonderem. Gerade U-Bahnen sind für mich Orte der skurrilsten, witzigsten, denkwürdigsten Begegnungen.

Ich kann mich an den Leuten nicht sattsehen. Manchmal ergeben sich regelrechte Menschenstudien. Egal, was sie tun, egal, wer – oder was – sie sind: Sie bereichern mich, ohne es zu wissen, machen mich dann und wann traurig – oder aber, sie tragen unbewusst zu meiner Erheiterung bei.

Ich betrete die Bahn. Das Abteil ist beinahe leer, denn heute bin ich spät dran. Der werktägliche Morgenandrang ist vorüber. Die Kleidung absolut fusselfrei, perfekt gestylte Frisur und glänzende Schuhe als gebe es kein Morgen: So sitzt er da – mir gegenüber in der U2 – und wackelt mit dem Knie. Ein Geschäftsmann wie aus dem Bilderbuch.

Die Türen schließen sich, wir fahren ab und lassen den Alexanderplatz hinter uns. Männer wie ihn sehe ich täglich über den Potsdamer Platz hetzen und dabei auf ihre Armbanduhren schauen. Vermutlich möchte er auch dort hin. Am Bahnhof Märkisches Museum zieht er ein Buch aus seiner Tasche: Martin Suter. Business Class: Geschichten aus der Welt des Managements. Mir entgleitet unkontrolliert ein Seufzer. Er blickt auf und sieht meinen Ruf des Dschungels von Sabine Kuegler. Desinteressiert wendet er sich wieder seinem Buch zu – ich beobachte ihn beim Lesen. Bahnhof Spittelmarkt.

Ein junger, schlaksiger Kerl von schätzungsweise 16 oder 17 Jahren sitzt in einer Ecke. Man hört das Vibrieren der Bassfrequenzen aus den Kopfhörern schallen, dabei wippt er abwechselnd mit Kopf oder Fuß. Ich tippe auf Hip Hop. Sicher ist er auf dem Weg zu seinem Ausbildungs- oder Arbeitsplatz: Er trägt einen schmutzigen weißen Arbeitsanzug, auf dem blaue und gelbe Farbflecken zu sehen sind.
Sein Handy klingelt, doch er hört es nicht. Ich versuche, es ihm mit einer Handbewegung zu bedeuten, indem ich Daumen und kleinen Finger abstrecke und sie an mein Ohr halte. Als er mich gestikulieren sieht, entfährt ihm ein „Hä?“. Ich sage ihm, dass er angerufen wird. Mürrisch zieht er sein Handy aus der Tasche und nuschelt hinein. Ich verstehe ihn kaum, doch ich vermute stark, dass sich am anderen Ende seine Freundin befindet. Nach einem genervten „Jaja, bis dann“ drückt er sie weg.

Auf der anderen Seite ihm schräg gegenüber sitzt eine ältere Dame, vermutlich eine Rentnerin mit einer mausgrauen Jacke. Sie trägt ihr Haar in etwa dem gleichen Farbton. Ein kleiner, weißer Pudel hockt brav zwischen ihren Beinen und schaut mich an – genau wie sein Frauchen. Ich bin mir sicher, dass die Dame nach Charlottenburg fahren wird. Vielleicht wird sie am Kranzler-Eck ein Frühstück mit Milchkaffee zu sich nehmen, dann ein bisschen spazieren gehen.
Woher kommt sie? Was hat sie in den Osten der Stadt verschlagen? Ich sinniere und denke mir verschiedene Geschichten aus. Ich entscheide mich dafür, dass sie bei einer alten Freundin übernachtet hat. Wir erreichen den Bahnhof Stadtmitte. Noch zwei Stationen.

Wieder ein Blick zum Geschäftsmann. In dem Moment, wo er gewahr wird, dass ich ihn wieder beobachte, hebt er seinen Kopf. Das ist dann auch der Moment, in dem ich meinen abwende. Ich tue so, als würde ich ihn nicht beobachtet haben. Glück gehabt. Ich war allem Anschein nach überzeugend.

Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass er sich wieder sich selbst zuwendet und in der gegenüberliegenden Fensterscheibe begutachtet. Die Frisur sitzt, er neigt den Kopf etwas nach unten, runzelt dabei die Augenbrauen etwas, dann hebt er den Kopf wieder und zieht eine Schnute. Der Teint ist auch gut ja. Sein Buch verschwindet in der Tasche. Meines auch, denn wir erreichen den Potsdamer Platz. Hier muss ich aussteigen. Der geschniegelte Mann tut es mir nach. Die alte Dame schaut uns nach und streichelt dabei ihren Hund. Der Junge wippt mit dem Fuß und gähnt.

Warten, warten und nochmals warten…

17. April – Tag 1


Gut geschlafen und wohl auch nichts vergessen. Mein Liebster bringt mich zum Flughafen. Ich bin bereit für meine Reise nach Colorado. Der Flieger von Berlin Tegel nach Newark Liberty International Airport ist es aber noch nicht. Er hat über eine Stunde Verspätung. Das fängt ja gut an. Noch zweieinhalb Stunden warten. Ich habe viel zu früh eingecheckt und spüre Müdigkeit und Langeweile meinen Kopf durchströmen. Einfach ignorieren. Ich wandere mit gefühlten Streichhölzern in den Augen durch den Flughafen und besorge mir nach etwa einer Stunde zwei Dosen Bier. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal Bier aus einem Blechbehälter getrunken habe.

Noch eineinhalb Stunden warten. Ich lasse mich irgendwo an meinem Terminal gemütlich nieder. Dabei nippe ich dann und wann am kühlen Getränk, das – gut versteckt im undurchsichtigen Metall – auch eine beliebige andere Flüssigkeit hätte sein können. Bei diesem Gedanken wird mir kurz übel. Ich sehe diverse Möglichkeiten direkt vor meinen Augen lebendig werden. Doch der Geschmack ist unverkennbar: Es handelt sich um ein leckeres Warsteiner. Die Übelkeit verschwindet. Menschen ziehen vorüber oder stehen am Check In. Vorfreude, Traurigkeit oder Eile stehen ihnen ins Gesicht geschrieben.

Eine Weile später kommt die Durchsage für meinen Flug. Ich packe meinen roten Moleskine-Kalender ein, den mir der Liebste zum Jahresanfang geschenkt hat. Auch das Schreibwerkzeug, mein Handy und das zweite Bier verschwinden in den Untiefen des Rucksacks. Ich muss dringend zum Boarding. Und auf die Toilette. Schon wieder bin ich zu spät dran. Diesmal wollte ich es doch anders machen. Etwas angeheitert betrete ich den Sicherheitsbereich. Ich lege meinen Rucksack und meine Jacke in ein dafür vorgesehenes Behältnis. Habe ich etwas vergessen? Oh, ja, der Gürtel! Ausziehen, andernfalls wird es piepen. Und ich bin doch niemand, bei dem es piept. Grinsend gehe ich durch den torähnlichen Menschenscanner. Als ich auf der anderen Seite ankomme, freue ich mich, denn ich habe sie unbeschadet erreicht.

Doch natürlich kommt wieder einmal alles anders. Ein Angestellter findet meine Bierdose. Mist, ich hätte wissen müssen, dass sie nicht in den Rucksack gehört. „Entweder, Sie trinken das Bier draußen oder Sie werfen es weg“, lautet sein Kommentar. Ich zeige ihm einen unsichtbaren Stinkefinger und beschließe, das Zeug zu trinken. Ich wandere wieder in den Check In-Wartebereich und trinke es in vollen, extrem schnellen Zügen aus. Dann wende ich mich erneut dem Sicherheitsbereich zu. Erneut passiere ich ihn – wie ich glaube – erfolgreich. Doch schon wieder kommt alles ganz anders, und der Verdacht, dass ich dieses Land niemals verlassen können werde, überfraut mich. Eine der Angestellten schaut mich ernst an. Klar, bestimmt ist sie sauer, dass ich so selbstzufrieden vor mich hin grinse. Das tue ich dann noch expliziter. Bis sie folgendes sagt: „Würden Sie bitte mit mir kommen? Ich muss Sie einer gesonderten Sicherheitskontrolle unterziehen“. Mein Grinsen löst sich in Luft auf.

Ich frage die Angestellte, warum das denn sein müsse. Ihre Antwort: „Weil ich es so sage“. Sie ist mir fast schon sympathisch. Ich laufe ihr also gezwungenermaßen hinterher wie ein bescheuerter Dackel, der jegliche Kontrolle über sich selbst verloren hat, stolpere dann und wann oder laufe gegen eine Wand. Ich hätte etwas essen sollen. Dass mich ein einziges Bier hat so bedüselt werden lassen, finde ich lustig. Meine Grinsen beherrscht mich. Ab und zu ernte ich einen strengen Blick von Mrs. Aufseher, die ihre Stirn so sehr in Falten gelegt hat, dass ich mir Sorgen um sie mache. Aber die Sorgen halten nicht lange an. Ich sehe mich schließlich in der Gegenwart von zwei weiteren drolligen Aufsehern gegenüber, die mein Bestes wollen: meinen Fotorucksack. Der eine ist um die 50, mit ergrautem Haar und Bierbauch, der andere ist Mitte 20 und lächelt mich unverschämt an. Ich weiß genau, was er will. Ich grinse zurück – in einer Art, die ihm suggerieren wird, dass er „das“ nie bekommen wird. Sein Lächeln erstirbt auf seinem unholden Antlitz.

Es ist angerichtet: Ich habe die gesonderte Kontrolle überstanden, in meinem Fotorucksack wurden weder Handgranaten noch Briefbomben oder sonstige Waffen in Kameraform gefunden. Ich passiere erneut den Sicherheitsbereich.

Ankunft in Newark ist gegen 13.25 Uhr. Ich muss durch die Passkontrolle und den Zoll. Ein Erlebnis für sich. Erst einmal stehe ich fast eine Stunde an, bis ich durch die Passkontrolle kann. Während dieser Zeit ziehe ich mein Handy, schalte es ein und sehe nach, ob ich Nachrichten habe. Plötzlich schreit der Angestellte des Schalters, an dessen Schlange ich stehe: „Heeeeey. Turn your cell phone off! It’s not allowed to use it here!“. Uha. Circa 300 Menschen richten ihre – Pi mal Daumen gerechnet – 600 Augen auf mich. Mir wird leicht schwindelig. Ich nicke und zwinge mich zu einem unfreundlichen Lächeln. Mein cell phone verschwindet in der rechten hinteren Hosentasche. Als ich dann nach weiteren 15 Minuten Wartens endlich an der Reihe bin, schaut mich der Angestellte noch einmal zornig an und weist mich noch einmal darauf hin, dass ich mein Handy hier nicht einzuschalten habe.

Die Menschen am und im Airport sind zum Erbrechen unfreundlich. Man kann ihnen an ihren Gesichtern ablesen, dass es mühselig für sie ist, sich auch nur zu einem Lächeln zu zwingen. Doch umso leichter fällt es ihnen, den sensiblen Reisenden ihre Genervtheit spüren zu lassen. Ich beschließe, bei dem Spiel mitzumachen und rempele ein paar Leute an.

„Do not leave your baggage unattended…“ ertönt es alle 15 Minuten aus den Lautsprechern – was für eine Schlafzimmerstimme diese Frau hat, die sich für diese Ansage hingegeben hat. Wie sie wohl aussehen mag? Sicher ist sie extrem sexy und der Traum so manch schlafloser Männernächte. Vielleicht ist sie aber auch grottenhässlich und das einzig Schöne, das sie hat, ist ihre Stimme. Und deswegen zeigt sie nur diese und nicht sich selbst. Ich ziehe die Schnüre der Schultergurte meines Rucksacks enger und begebe mich auf die Suche nach Bier. Ich bin weit gereist und durstig. In dem wahrscheinlich einzigen Flughafenpub des Airports trinke ich ein „Amstel light“, doch bis es soweit ist, muss ich noch einiges an Strapazen ertragen…

Ich zahle horrende 7,22 Dollar. Wucher. Ein paar junge Männer lassen sich ungeniert über den Hintern einer Frau aus. Sie sehen, dass ich die Stirn runzele und grölen erst recht weiter. Geschmacklos. Ganz im Gegensatz zu dem Bier, das ich dauernd an meine Lippen setze. Doch es ist nichts im Vergleich zu einem kühlen Warsteiner, finde ich. Ich stehe an einen Oldtimer gelehnt, der dort zur Zierde steht. Sein Dach ist total verstaubt, es ist schade um den Wagen, der eigentlich eine Augenweide sein sollte. Ich habe Mitleid mit ihm. Das Bier habe ich bereits ausgetrunken. 0.33 Liter. Das ist nicht viel. Ich hätte gern noch eins, finde es aber zu teuer und setze meinen Erkundungsgang durch den Terminal fort.

Der Flughafen ist wie ein riesiger Marktplatz. Hier gibt es alles. Sogar „Shoe Shine“: Zwei Schwarze, ein Junge und ein Mann, putzen einem weißen und einem schwarzen Geschäftsmann die Schuhe und bohnern an ihren Schuhen herum, bis die letzte Mattigkeit von ihnen gewichen ist.
Ich setze mich in den Wartesaal. Noch zwei Stunden. Müde. Neben mir sitzt eine kleine Familie, bestehend aus Mutter, Vater und Baby. Die Frau schaut das Kind liebevoll-fasziniert an. Die Durchsage „I need two additional volonteers“ erschüttert mich. Die Flughafenmitarbeiterin sucht händeringend nach Reisenden, die sich dazu überreden lassen, erst morgen zu fliegen, und als Entschädigung dafür eine Übernachtung in einem Hotel, ein Dinner erhalten. Wohlstandsglücksrad.

Ich lande völlig verspätet gegen 19.45 Uhr Ortszeit in Denver. Nach 15 Minuten habe ich mein Gepäck, und die Flughafenmetro hat mich zum Warteareal gebracht. Meine jüngere Schwester steht im Ausgangsbereich – strahlend bis über beide Ohren. Knapp 30 Sekunden später liegen wir uns weinend in den Armen. Wir haben uns zehn Monate nicht gesehen.

Wird fortgeführt.

Höhenflug

Nun sitze ich hier, zusammengekauert auf der Rückbank einer Cessna 172 Skyhawk. Ich ärgere mich, denn ich habe mich zu etwas hinreißen lassen, das ich eigentlich gar nicht will. Menschen gehören auf den Boden, nicht in die Luft. Sonst wären sie Vögel geworden. Ich seufze und schnalle mich an. Noch die Sonnenbrille aufsetzen, damit meine Flugangst nicht so auffällt. So, jetzt sehe ich richtig lässig aus. Dumm nur, dass die Sonne gar nicht scheint.

Nervös bewegt sich mein Knie auf und ab. Ein Blick aus dem leicht verschmutzten Fenster. Dunkle Wolken ziehen aus der Ferne heran, sie wirken bedrohlich. Der Liebste und sein Fliegerfreund vorne im Cockpit entscheiden, nur eine Platzrunde zu drehen. Eine größere Tour wäre jetzt zu riskant; später eventuell, wenn das Wetter besser ist. Die Kerle sind sichtlich enttäuscht darüber, dass sie mir vielleicht nicht mehr als das hier bieten können. Ich tue so, als wäre ich auch betrübt und nicke mitfühlend vor mich hin. In Wahrheit bemitleide ich mich aber gerade selbst und verfluche mich in Gedanken, vorher kein Testament verfasst zu haben.

Die Cessna hüpft zur Piste. Tapfer mache ich gute Mine zum vermeintlich bösen Spiel. Pilot und Copilot unterhalten sich über das Prozedere und machen – wahrscheinlich um mich aufzumuntern – kleine Späße zum Thema Fliegen. Die finde ich aber gar nicht lustig. Ich zwinge mich zu einem gequälten Lächeln und trage es mit Fassung. Lässig. Immerhin trage ich meine Sonnenbrille. Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Aber der muss ja auch nicht fliegen.

Ich bin ganz hibbelig und überlege, wieder auszusteigen. Zu spät: Der Pilot drückt den Gashebel. 20 Knoten, 40… 60… Mein Liebster tätschelt mir vom Copilotensitz aus das Knie und fragt, ob alles in Ordnung sei. Mit einem inzwischen auf den Lippen festgeforeren Lächeln schiebe die Sonnenbrille noch weiter ins Gesicht. Bestimmt habe ich jetzt Abdrücke um die Augen. Bei etwa 70 Knoten hebt die kleine Maschine etwas wackelig ab. Der Wind sticht ihr in die Seite.

Schon sind wir oben. Das ging schnell. Es ruckelt ziemlich, und ich fühle mich unbehaglich, aber nicht so sehr wie damals in der Eifel beim Segelfliegen oder den Linienflügen, die ich bisher alle überlebt habe. Die Wolkenfront nähert sich, nach dem Downwind gehen wir schon in den Right Base, den rechten Queranflug. Eine Kurve. Hua! Meine Hände krallen sich in die Oberschenkel. Final. Alles geht ganz schnell. Wir landen, und prompt beginnt es zu regnen. Der Wind ist auch heftiger geworden. Perfektes Landing.

Am Boden beschließen wir, noch etwas zu warten. Vielleicht klärt es sich auf. Dann könnte man doch noch eine Tour machen. Insgeheim wünsche ich mir, dass es so bleibt, wie es ist. Natürlich klärt es sich auf. Durch die Wolken bricht die Sonne, und als es komplett aufhört zu regnen und der Wind nachlässt, dreht mein Liebster noch ein paar Platzrunden, bevor wir uns zu viert erneut in die Cessna setzen. Er gesellt sich zu mir auf die Rückbank; auf dem Copilotenplatz sitzt jetzt der ehemalige Fluglehrer der beiden Fliegerfreunde.

Es geht in Richtung Brocken. Ich staune, denn der Flug ist angenehm ruhig. Ich genieße die Aussicht. Geometrische Formen in der Gestalt von Feldern, Wäldern, kleineren und größeren Orten. Uns zur Rechten macht sich ein großer Regenbogen breit. Inzwischen bin ich kühn geworden: Ich wage einen Griff in meinen Fotorucksack und ziehe sogar die Kamera heraus, mit der ich das farbige Naturwunder einfange.

Nach einem knapp einstündigen Flug trinken wir am Flugplatz Stendal einen Kaffee, vertreten uns kurz die Beine und treten dann den Rückflug an. Mein Liebster, jetzt in der Rolle des Piloten, fragt die anderen Männer, ob sie etwas dagegen hätten, wenn seine Süße zu ihm nach vorne käme. Haben sie nicht. Ohne zu murren quetschen sie sich auf die Rücksitze. Als der Pilot die Maschine sicher in die Luft bringt, bewundere ich ihn heimlich.

Ich lasse die Muskeln locker, schaue mir die Landschaft zur Rechten und den Flieger mir zur Linken an. Er bombardiert mich konsequent mit Fachbegriffen. Ich bin jetzt beinahe entspannt und grinse übermütig vor mich hin. Doch dann deutet der Liebste auf das Steuer. Verdammt, ich hätte es wissen müssen – von Anfang an. „Schätzchen, hältst Du mal kurz? Ich muss eben was suchen.“ Ein entsetzter Blick nach links. Das meint er doch jetzt nicht ernst. Nee oder? Doch. Zumindest schaut er ernst und nimmt die Hände vom Steuer. Mechanisch ergreife ich es und halte es fest in beiden Händen.

„Geil oder? Das fühlt sich doch krass an oder? Da muss man mal ein Gefühl für kriegen!“ Ach ja, muss man das? Und wer fragt mich, ob ICH das will? In diesem Moment sehe ich den Süßen an einem Marterpfahl vor mir. Ich führe Kriegstänze und -gesänge auf, mit bunten Federn im Haar und bedrohlich-bemaltem Gesicht. Doch der Pilot, dessen Aufgabe eigentlich das Fliegen ist, kramt mal hier herum, schaut mal dort nach hinten und dann wieder nach vorn. Doch es kommt schlimmer. „Süße, da vorne links siehst Du ein Dorf. Nimmst Du mal Kurs darauf?“ Der hat sie doch nicht mehr alle! Ich reiße die Augen weit auf und sehe mich nicken.

Ich klammere mich an einen Strohhalm: Das Flugzeug hat eine leichte Neigung nach oben, weswegen ich das Dorf nur schlecht sehen kann. Das bedeute ich dem Liebsten, in der Hoffnung, damit aus dem Schneider zu sein und ihm die Kontrolle wieder übergeben zu können. „Ach so! Stimmt ja.“, sagt er enthusiastisch. „Das macht aber gar nichts, Schätzchen! Da drückst Du das Ruder hier einfach ein bisschen rein. So…“ Er nimmt meine Hände und presst sie mitsamt dem Steuer ein Stück nach innen. Ich gucke ihn hasserfüllt an. Das Flugzeug kippt die Nase nach unten. Das wiederum zwingt mich, wieder nach vorn zu schauen. „Da, nun siehst Du es.“ Er grinst mich stolz an. Das wird er bereuen. Und wie! „Gut machst Du das!“, wagt er doch tatsächlich noch zu sagen. „Guck mal, da unten hast Du zwei Pedale. Tritt doch da mal drauf, damit Du siehst, was dann passiert.“ Wäre ich jetzt verheiratet, würde ich mich SOFORT scheiden lassen. Was soll da schon passieren? Bestimmt nichts Gutes! Ich drücke doch da nicht drauf! Ich bin doch nicht irre!

Ich BIN irre. Denn da ist diese unwiderstehliche Faszination. Anscheinend bin ich verrückt geworden, denn abwechselnd trete ich auf das linke, dann auf das rechte Pedal. Ich ärgere mich über meine Inkonsequenz in Sachen Flugangst. Erst fürchte ich es, dann führe ich es – das Flugzeug. Mit noch immer schweißkalten Händen bediene ich mal das Höhen-, dann das Quer- und später wieder das Seitenruder. Der Liebste lobt mich für mein „Gespür fürs Fliegen“, doch ich würde es jetzt spontan als „Überlebenswillen“ bezeichnen.

Mit wackligen Knien, aber trunken vor Glück, steige ich nach der Landung aus der Maschine. Die Sonne lacht noch immer. Doch mit meinem Strahlen mache ich ihr Konkurrenz. Ich möchte fliegen lernen.

Dreier gefällig?

In der „Brotfabrik“ in Berlin-Weißensee läuft derzeit das Musiktheaterstück Dreierleben. Am 13. März wurde es dort uraufgeführt; ich habe es mir am Freitagabend angeschaut.

Jurastudent Fabian steckt in den Examensvorbereitungen. Nervenaufreibend. Vor allem mit dem Strafrecht hat er es schwer. „Ich hab‘ keinen Bock mehr.“ Resigniert pfeffert er sein Lehrbuch auf den Tisch, schaut genervt und verschränkt trotzig die Arme.

Sein Mitbewohner und angehender Arzt Albert hat es nicht leichter: Er schreibt an seiner Doktorarbeit. Und hat Liebeskummer. Warum musste seine Freundin Lara ausgerechnet nach Japan auswandern, um ihrer Musikleidenschaft zu frönen? Und warum ist dieses Land eigentlich so weit weg? Tag für Tag werden Laras Anrufe seltener… „Meine Freundin hat mich für Sushi verlassen!“, wütet Albert herum. Doch die Wahrheit ist, dass es die erste Geige ist, die es ihr angetan hat …

Als wäre das alles nicht anstrengend genug, muss jetzt auch noch ein neuer Mitbewohner her, denn der Dritte im Bunde, Peter, ist kürzlich mit seiner Liebsten zusammengezogen. Die Suche nach einer geeigneten Person gestaltet sich jedoch als schwierige Aufgabe, denn will niemand so recht in Frage kommen: zu flippig, zu nervig, zu anspruchsvoll sind die Bewerber. „Wir melden uns.“ Fabian und Albert lassen seufzend die Schultern hängen.

Dann stellt sich die junge Schauspielerin Renana vor. Sie macht einen guten, fröhlichen Eindruck und ist sehr nett. Daher entscheiden sich die Jungs für sie. Doch auch Renana muss sich im Alltag bewähren: Sie nimmt an Schauspielcastings teil – und kassiert Absagen… Aus der Augenweide wird eine Trauerweide. Doch da ist noch etwas anderes: Renana sorgt für so manche schlaflose Nacht bei Fabian … Gemütliche Drei-Herren-WG ade – es wird turbulent! Wird Renana die „Probezeit“ bestehen?

Sara Fonseca in der Rolle der Renana überzeugt vor allem durch Charme, große Kulleraugen und Lebensfreude. Sie hat ein Glitzern in den Augen, das den Zuschauer in den Bann zieht. Tibor Locher (Fabian) ist Sympathieträger vor allem durch seine tapsige, bisweilen gutmütige, dann und wann bärbeißerische Art; und Mario Zuber alias Albert rührt durch seine emotionale, tiefsinnige und ruhige Art.

An mancher Stelle kann man Humor vom feinsten erleben. Die Lachmuskeln arbeiten. Sehr unterhaltsam, dieses kleine Musical. Die schauspielerische Leistung der Darsteller wurde durch Songs und Balladen unterstützt, wobei mich die Gesangseinlagen nicht sonderlich überzeugt haben.

Den drei Musikern in der Ecke – ebenfalls zwei junge Herren und eine junge Frau an E-Piano, Drums und Cello – gebührt mein vollster Respekt. Vielleicht hätte ich mehr auf die Bühne statt auf die Hingebung der Instrumentalisten achten sollen … Mit ihrem Spaß bei der Arbeit haben sie mich berührt. Schon allein deswegen – und nicht zuletzt auch wegen des Ambientes der „Brotfabrik“ – lohnt es sich, das Stück zu sehen und zu hören. Das kann man dort noch bis zum 19. März.