Mich fröstelt. Ich erwache mit einer Gänsehaut. Doch es ist nicht kalt, allenfalls kühl. Ich lasse den Blick neben mich gleiten. Er ist da, sein Atem geht ruhig und gleichmäßig. Ich streiche dem Liebsten über die Wange. Sein Körper macht eine Bewegung in meine Richtung; ein kurzer Seufzer, dann versinkt er wieder im Tiefschlaf. Ich wäre gern in seinen Träumen. Jetzt ist er losgelöst von mir; nur meine Hand hält er fest umschlossen. Er sieht zufrieden aus. In diesem Moment möchte ich ihn mir einverleiben, eine Einheit mit ihm sein. Sehen, was er sieht; fühlen, was er fühlt.
Stille Morgenstunde. Nur das Zirpen der Zikaden. Ich befinde mich in unserem Haus in der Provence. Eine Brise weht durch das halb geöffnete Fenster. Die Bewegung der dunkelblauen Stoffgardinen ist unvorhersehbar elegant: Sie beschreiben rauschende Wellen – wie das Meer draußen vor dem Haus. Ich bin hellwach. Meine Hand ruht noch immer in der des Liebsten. Behutsam mache ich mich von ihr los und richte mich auf. Ein paar Augenblicke verharre ich in dieser Position.
Nachts fühlen sich Minuten und Stunden anders an. Mein Bewusstsein bewegt sich nicht in der Dimension von Raum und Zeit. Ich habe ein Gefühl von Zeitlosigkeit. Der Funkwecker zeigt leuchtend die frühe Stunde an. Ein ausgeklügeltes System von sechs digitalen Zahlen, deren Dynamik der Reihenfolge nach zunimmt: Links vergeht die Zeit langsamer, rechts läuft sie schneller ab.
Leise stehe ich auf, drücke die Fensterläden weiter nach außen und verweile kurz, den Blick auf das Wasser gerichtet. Ein undurchsichtiges schwarzes Nass. Der Vollmond wirft einen Lichtkegel durch die Schlafzimmertür. Ich gehe ins Arbeitszimmer und zünde ein paar Kerzen an. In der Ecke am Fenster steht der schwere Mahagoni-Schreibtisch, der mich anzustarren scheint. Aus einem der Hängeregister ziehe ich einen Ringblock. Den Füllfederhalter zur Hand nehmend setze ich mich.
Meine Augen haben sich inzwischen an das Dämmerlicht gewöhnt. Gewöhnen kann man sich wohl an alles. Auch an völlige Finsternis? Ich schließe die Augen und versuche mir vorzustellen, wie es ist, blind zu sein. Eine Reise in die Vergangenheit – ans Ende des 19. Jahrhunderts. Auf einer Wiese in Alabama liegt ein Mädchen flach auf dem Bauch ausgestreckt, ein Kuscheltier unter dem Kopf. Die reglosen Hände zu beiden Seiten des Körpers platziert. Sie schläft nicht. Die Kleine liegt da und lauscht den Vibrationen des Bodens. Faszination steht ihr ins blasse Gesichtchen geschrieben. Doch so still wie heute erlebt man sie selten. Oft weint und schreit sie, ist wütend und schlägt um sich. Sie hat Angst. Und niemand versteht ihre Zeichen.
Um das Mädchen mit dem lockigen Haar ist es immer Nacht. Helen sieht und hört nichts, denn eine Krankheit hat sie in ihrem zweiten Lebensjahr taubblind gemacht. Sie musste lernen, sich in ihrer stummen Welt allein zurechtzufinden, sich Bilder vom Belebten und Unbelebten selbst zusammenzuphantasieren. Ihre Nase ist geschult, sie kann Dinge durch ihren Geruchssinn unterscheiden. Doch Helen weiß nicht mehr, was sie umgibt. Sie hat vergessen, wie ein Baum aussieht und wie das Gezwitscher von Vögeln klingt… Helen ist ein wildes Wesen, das nur physisch lebt und selten lächelt.
Doch dann taucht eine junge Frau auf und eröffnet der Kleinen eine Perspektive: Anne ist 20 und sehr geduldig. Sie selbst erblindete im Kindesalter fast völlig; viele Operationen gaben ihr das Augenlicht zurück. Anne bändigt und erzieht Helen, zeigt ihr, dass jedes Ding auf Erden einen Namen hat. Die Lehrerin bringt der Schülerin bei, wie man sieht, liest und schreibt – mithilfe des Fingeralphabets. Helen lernt Französisch, absolviert ein Studium cum laude und wird Schriftstellerin. Irgendwann spricht sie sogar. Jetzt ist es eine Gänsehaut der Ergriffenheit, die meinen Körper durchzieht. Ich fühle grenzenlose Bewunderung.
Doch ist Helen je wirklich glücklich gewesen? Hatte sie sich so sehr an die Dunkelheit gewöhnt, dass sie vielleicht sogar Angst davor gehabt hätte, sehen zu können? Zu geballt wären sie auf die Frau eingeströmt, die Farben, die das Leben malt…
Ich sitze noch immer an meinem Schreibtisch und schreibe nicht eine Zeile; nur ein einziges Wort. Es ist der Titel, den meine Gedanken tragen. Nachtlos. Das Meer tost jetzt. Irgendwo in der Ferne bellt ein Hund. Ich bin glücklich, weil ich sehen und hören kann. Weil ich riechen, schmecken und mich mitteilen kann. Mein Kopf sinkt auf den Schreibtisch. Ich bin schläfrig geworden. Jemand schaukelt mich sanft hin und her – wie in einer Wiege. Ein sicheres Gefühl von Geborgenheit umhüllt mich. Das Schaukeln wird schneller; ich werde hinausgeworfen…
Der Wecker surrt. Es ist 7.00 Uhr, und ich befinde mich in meiner Berliner Altbauwohnung. Die Sonne scheint. Ich blicke zur Seite und lächele: Der Liebste liegt neben mir. Dann stehe ich auf und gehe auf leisen Sohlen ins Arbeitszimmer. Ich bin hellwach.
Sherry: Ich habe vor Jahren ihre Autobiographie “Mein Weg aus dem Dunkel” gelesen. Sie hat mich sehr bewegt. Und die Zeit? Scheint manchmal nachts stehenzubleiben… Manchmal jedoch scheint sie regelrecht zwischen den Fingern zu zerrinnen… Und nichts bleibt mehr von ihr.
Es schaut so aus, als hättest Du den Sinn oder die Bedeutung hinter meiner Geschichte erkannt. Das freut mich! Alles andere hätte mich bei Dir allerdings auch gewundert.
Grüße nach Köln!
Die Geschichte von Helen Keller hat mich auch immer sehr fasziniert – genauso wie die Nacht. Du hast Recht, irgendetwas läuft nachts anders, nur was, habe ich noch nicht herausgefunden. Dein Glück neben dem Liebsten habe ich gefühlt. Wie schön es ist, dort, wo man ist, “richtig” zu sein, zu sein, angekommen zu sein. Einfach zu sein…