Synchronschaukeln

Spielplätze sind Orte der Begegnung. Kleine und große Kinder tummeln sich in Sandkästen und auf  Klettergerüsten. Sie lernen hier im wahrsten Sinne des Wortes spielerisch soziales Verhalten und knüpfen erste Freundschaften. Wichtige Lebenerfahrungen werden gemacht. Der Kollwitzplatz im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg ist so ein Ort.

Ein kleines blondes Mädchen um die zweieinhalb Jahre mit geröteten Pausbäckchen ist äußerst ungeduldig: Zu gerne möchte sie schaukeln. Sie hat sich doch so sehr darauf gefreut. Bereits während des Mittagessens hatte sie munter vom Spielplatz geplappert. Doch ein anderes Mädchen ist schon länger da und wartet ebenfalls darauf, dass das Objekt ihrer Begierde frei wird.

Die Kleine mit den Pausbäckchen nähert sich der Schaukel, doch das andere Mädchen ist wagemutiger und traut sich noch dichter an das Gerüst heran. Sie ist etwa ein Jahr älter. Ein paar abschätzige Blicke, und im gegenseitigen stillen Einvernehmen sind die Fronten innerhalb weniger Sekunden geklärt: Die Ältere setzt sich auf die Schaukel, resignierte Blicke von der Jüngeren in Richtung Mama. Die Mundwinkel rutschen nach unten.

Auf einer Bank sitzt ein älterer Herr mit sympathischen Lachfältchen und rot-grau kariertem Baret. Er blättert in einer Zeitung, bis er einen Artikel findet, der ihm offensichtlich zusagt. Ein paar Minuten liest er aufmerksam, dann hebt er den Kopf und schaut dem munteren Treiben der Eltern und Kinder zu. Er scheint zu sinnieren, nachzudenken über den Artikel. Vielleicht erinnert er sich aber auch daran, wie es war, als seine Kinder noch klein waren. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht.

Auf der anderen Seite des Spielplatzes gibt es noch ein weiteres Gerüst mit zwei Schaukeln. Das kleine blonde Mädchen mit den Pausbacken und ihr Papa sehen, dass eine davon frei geworden ist und eilen hin. Der Vater schubst an, die Tochter jauchzt. In der Schaukel daneben sitzt ebenfalls ein Mädchen. Sie ist im gleichen Alter und hat dunkles Haar. Ihr roter Mantel flattert im Wind, während Papi die Schaukel lustlos in Schwung bringt. Auch der andere Vater verliert nach einer Weile die Geduld, schaut dann und wann auf die Uhr und signalisiert der Tochter, dass sie gleich aufbrechen werden. Bei dem anderen Papa das gleiche Prozerede: „Jetzt müssen wir aber los.“ Die Gesichtchen der beiden Kleinen verlieren abrupt ihr Strahlen.

„Ich will aber noch nicht nach Hause!“, sagt die Kleine mit den Pausbacken echauffiert. „Ja, und ich auch nicht!“, erwidert die andere. Die Kleinen schauen sich an, mustern sich interessiert und lassen sich noch eine Weile anschubsen. Die Väter werfen sich belustigte Blicke zu. „Na gut, aber wirklich nicht mehr lange!“, sagt der Papa der Kleinen mit dem roten Mantel.

Gemeinsam und im Takt schubsen die beiden Männer ihre Kinder an. Gleichzeitig gehen die Schaukeln nach vorn, dann wieder nach hinten. Im Moment des Anschubsens geben beide Mädchen Kicherlaute von sich. Auch den Väter sieht man jetzt Freude über das Synchronschaukeln an.  Kommunikation und Interaktion – und zwei Kinder als Verbündete.

Winter ade…

… Doch Scheiden tut nicht wirklich weh. Seit drei Tagen ist offiziell Frühling – und das ist auch gut so.

Dennoch: Folgenden Schnappschuss habe ich eben auf meinem (relativ) pixelstarken Fotohandy entdeckt und möchte dem Winter damit nostalgisch hinterherwinken. Bis zum nächsten Mal!

Schnee-Idyll

Morgendliche Rutschpartie

8.30 Uhr. Aus der Haustür tretend stelle ich fest, dass noch immer viel Schnee liegt. Na denn, wann hat man schon mal so einen Winter. Und er mutet ja doch recht idyllisch an. Hinzu kommt allerdings eine ziemliche Glätte, auf die meine profillosen Schuhsohlen permanent reagieren: Ich rutsche hin und her und muss kleine Trippelschrittchen machen, um nicht zu fallen. Würde ich jetzt hinter mir laufen und mir bei diesen Bewegungen zusehen, würde ich mich wohl über mich selbst lustig machen. Wie praktisch es doch ist, dass man nicht mit dem Anblick der eigenen Körperrückseite konfrontiert wird.

Als ich um die Ecke biege, sehe ich, dass sich der Bus bereits gefährlich schnell der Haltestelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite nähert. Ich bin noch gute 50 Meter davon entfernt, also verdrehe ich kurz genervt die Augen und renne los, denn der nächste Bus kommt erst wieder in zehn Minuten. Ich darf keine Zeit verlieren. Stress am frühen Morgen.

Und dann passiert es: Mein rechter Fuß verliert die Bodenhaftung und gleitet nach vorn. Gerade noch so kann ich mich halten und versuche armrudernd meinen Körper auszutarieren. Auch diese Bewegung sieht sicher nicht sehr anmutig aus. Ich sehe mich schon beinahe in Sicherheit, doch dann verliere ich den Kampf mit der eisigen Glätte: Ich falle nach hinten und rutsche mit dem Hintern ein paar Meter nach vorn – das rechte Bein voran. Okay, das sieht nun garantiert so richtig bescheuert aus.

Das rechte Bein ist es dann auch, das einer älteren Frau um die 60 ebenfalls den Boden unter den Füßen wegreißt. Ich schlittere direkt in sie hinein, und noch bevor ich „Vorsicht!“ rufen kann, liegt sie auch schon auf dem Rücken und stöhnt. Ihre Begleiterin, etwas älter als das Opfer, stößt einen kleinen Schreckensschrei aus, dann dreht sie sich zu mir um und schaut mich erzürnt an. Jetzt bekomme ich bestimmt Ärger. Sie starrt mich eine Weile an und sagt dann nur: „Oh Gott! Ein Mädel auch noch.“ Ich habe keinen blassen Schimmer, was sie damit meint. Noch Stunden später grübele ich darüber nach, ohne zu einer plausiblen Erklärung zu gelangen.

Mein schlechtes Gewissen lässt mich die Damen gefühlte 1.000 Male fragen, ob denn alles in Ordnung sei und ob ich denn wirklich nicht helfen könne. Die beiden geben mir fast schon genervt mit Blicken zu verstehen, dass ich mich verziehen soll. Ich drehe mich noch etwa dutzendmal nach ihnen um. Sie stehen da und unterhalten sich angeregt. Worüber, das kann ich nicht mehr hören. Ich bin zu weit weg. Irgendwann höre ich es hinter mir kichern. Ich drehe mich um. Tatsächlich, die Frauen kichern. Ich runzele die Stirn, nun verstehe ich gar nichts mehr. Oder vielleicht doch: Anscheinend hatten sie schon lange kein so bewegendes Erlebnis mehr – im wahrsten Sinne des Wortes.

Milch des Leids

Zum ersten Mal seit ich in Berlin lebe, hat es mich erwischt, das Berlinale-Fieber. Es handelt sich zwar lediglich um eine leicht erhöhte Temperatur (ich habe bisher zwei Filme gesehen), dennoch: Ein Drama wird wohl noch eine ganze Weile in mir nachklingen.

In der peruanisch-spanischen Koproduktion „La teta asustada“ (deutscher Titel: „Milch des Leids“, wörtliche Übersetzung: „Die verängstigte Brust“) verarbeitet die Regisseurin Claudia Llosa die bedrückenden Erinnerungen an eine Zeit, in der terroristische Kämpfe in ihrem Heimatland Peru an der Tagesordnung standen. Unzähligen Mädchen und Frauen wurden vergewaltigt – so auch die Mutter der jungen Filmprotagonistin Fausta, die die Erlebnisse gewissermaßen hautnah miterlebte: im Leib ihrer Mutter.

Fausta wird in einen immer größer werdenden Sog aus Verwirrung, Angst und Verzweiflung gezogen, nachdem ihre alte Mutter verstirbt. Aus Angst, ebenfalls missbraucht zu werden, hat sie sich noch zu deren Lebzeiten eine Kartoffel in den Unterleib gesteckt. Dies verursacht ihr permanent Schmerzen.

Da sie zudem noch unter zeitweiligem Nasenbluten leidet, begleitet ihr Onkel sie in eine Klinik und schildert dem Arzt, Fausta leide unter der „Milch des Leids“, einer Krankheit, bei der die Nöte der Mutter der Tochter gewissermaßen mit der Muttermilch übertragen wurden. Mit einer Routine-OP würde ihr rasch Linderung widerfahren. Doch aus Angst beschließt Fausta, den Schmerz als Teil ihres Lebens zu dulden und zu akzeptieren, denn er ist nichts im Vergleich zu ihrem größten Schmerz, der für die Augen unsichtbar ist: Die Angst, die in ihrem Herzen steckt.

Ihre einzige Zuflucht ist die Musik. Wann immer sie sich unbeobachtet fühlt, singt Fausta traurige Lieder, die sie zusammen mit ihrer Mutter gesungen hat. Sie handeln allesamt von einer unbarmherzigen Vergangenheit.

Um die Überführung des Leichnams ihrer Mutter in das Heimatdorf bezahlen zu können, muss Fausta hart arbeiten. Als sie bei einer Konzertpianistin eine Stelle als Hausmädchen antritt, scheint sich die Verwirrung des Mädchens peu à peu zu legen.

Der Zuschauer gewinnt den Eindruck, dass alte Wunden heilen werden und sich eine Freundschaft zwischen den ungleichen Frauen entwickelt. Dies zeichnet sich unter anderem dadurch ab, dass es eine Art Pakt zwischen beiden gibt: Nachdem der reichen Frau auf den Fliesen des Bads eine Perlenkette zu Bruch geht, soll der scheuen Fausta mit jedem Lied, das sie für die Hausherrin singt, eine Perle zugesprochen werden. Auch der Gärtner der Konzertpianistin wird zu einem weiteren kleinen Lichtblick in Faustas Leben.

Eines der Lieder Faustas kann die Pianistin auf einem Konzert in einer Weise umsetzen, die das Publikum verzaubert. Tosender Applaus, und der Erfolg der reifen ist nun ebenfalls Erfolg der jungen Frau. Auch die letzte Perle gehört nun Fausta. Doch die Pianistin wirft Fausta unerwartet und noch vor der Übergabe der Perlen hinaus. Geteilter Erfolg ist nur halber Erfolg.

Mehr sei an dieser Stelle nicht verraten. Nur ein kleiner Hinweis: Der Film geht nicht so traurig aus wie man dann vermutet. Die einfache – und doch bisweilen so schwer erreichbare – Moral, die ich daraus ziehe: Vergangenes lastet immer nach, doch bereits ein kleiner Lichtblick kann die erlösende Rettung bedeuten.

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Nachtrag 15.02.: Goldener Bär für „La teta asustada“

Mein Leben mit Söhnen