Der Heimat entgegen – eine Zugfahrt

Raus aus der Spreemetropole, der Heimat entgegen. Endlich. Die Ostsee nähert sich mit jedem gefahrenen Meter. Wochenende, 35 Grad, Sonne, Strand und Sand. Und dann ist da noch das Viertelfinalspiel gegen Argentinien. Unsere multinationale Elf „wird es den Steakfressern schon zeigen“. Das sagt hier zumindest einer der mitreisenden Studenten. Er ist gerade erst den Kinderschuhen entschlüpft, wie ich finde. Schöne Schuhe trägt er dafür jetzt: graue Chucks. Die mit dem Stern aus Stoff.
„Alter, ich wette mit Dir, das wird 2:0 für Deutschland ausgehen.“ Sein Kommilitone nickt. Ich finde auch, das klingt ganz realistisch.
Ein Mädchen in einem sattgrünen T-Shirt liest schweigend die Süddeutsche Zeitung. Zumindest eine Weile lang.
„Wusstet ihr, dass die Gelantine vom Schwein auch in Bier und in Gummibärchen steckt?“
„Pah. Ich trink nur Bier, das nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut wurde.“
Klugscheißer. Und das mit 20. Widerlich streberhaft. Ich grinse böse vor mich hin.

Eberswalde Hauptbahnhof.
„Möchte denn jemand was Gutes aus Gelantine?“, fragt das Mädchen mit dem sattgrünen T-Shirt. Sie hebt eine Tüte Haribo in die Höhe und wedelt damit herum. Nein, niemand möchte etwas Gutes vom Schwein.
„Haribo! Ihr esst keine Gummibärchen?“ Die Grüne ist schockiert. Aber nicht lange: Genussvoll mampft sie drauf los. Dann folgt die Frage nach dem Bier. Neeein. Wieder niemand. Jetzt bin ich baff erstaunt.
„Na doch“, sagt jetzt einer der Jungs, “ ich nehme eins.“ Puh. Mein Weltbild ist wiederhergestellt.

Entspannt sinke ich in den Sitz und schmiege meinen Rücken an die unbequeme RE-Lehne. Aua!
Aus meinem Rucksack krame ich eine Piccolo-Flasche Roséwein hervor und nehme einen zarten Schluck. Leider nicht besonders gut gekühlt. Wie denn auch bei der Hitze. Das hält ja nicht lange.  Er schmeckt allerdings auch lauwarm gut, wie ich feststellen muss. Ja wirklich. Und in Reserve habe ich auch noch einen Weißwein. Die Jungs und Mädels Studierende schauen mich an als wäre ich ein Alien – oder als wäre ich alt. Wein? Ih, die trinkt Wein.
Ich erinnere mich an den Spruch meiner reiferen Bekannten: „Wenn Du erst einmal 30 bist, nimmt Dich Jugend nur noch als ‚Alte‘ war. Du bist für die dann nicht mehr jung.“ Dann kichert sie los. Ich fürchte, sie hat recht. Andererseits: Der junge Mann mit dem Bier schaut mir in den Ausschnitt – und dann tief in die Augen. Vielleicht doch noch nicht zu alt.

„Wir erreichen jetzt den Bahnhof Britz“.
Nicht besonders spektakulär, wie ich finde. Andererseits bin ich noch nie dort gewesen. Wer weiß, was sich dort jenseits der Bäume und der Felder verbirgt. Das Zentrum sieht vom Bahnhof aus jedenfalls sehr nett und gepflegt aus. Wirklich einladend. Vielleicht lässt es sich hier sogar leben. „Wer weiß das schon“. Ich denke an meinen besten Freund aus Kindertagen. Das war sein absoluter Lieblingsspruch.
Es wird langsam dunkel draußen. Ein wunderschöner, atemberaubender, pastellfarbener Abendhimmel präsentiert sich voller Stolz. Schon als Kind bin ich gern Zug gefahren.
Die Studentenjugend unterhält sich über Messenger-Software auf Mobiltelefonen. Interessiert mich nicht.

Angermünde. Hier bin ich noch nie gewesen. Immer nur durchgefahren.
„Die Faaaarscheine bitte!“, tönt es da gut eine Stunde nach Zugabfahrt. Ich zücke mein zusammengefaltetes Online-Ticket. Der Barcode ist nicht zerknickt, alles ist gut.
„Na, was haben wir denn da?“ Der Schaffner ist ein rundlicher Herr Mitte 50.
„Äh … Ein Online-Ticket …“ Ich hoffe, damit geht jetzt alles klar.
„Oh! Sowas habe ich heute schon mal gesehen! Lustig.“ Sowas aber auch … Ein paar Minuten dauert es, bis der Kontrolleur es geschafft hat, den Barcode zu scannen. Dann lächelt er noch einmal freundlich und geht weiter. „Die Fahrscheine bitte …“

Sommerluft – endlich lau und nicht mehr ganz so stickig.
„Wir erreichen jetzt den Bahnhof Warnitz. Ausstieg in Fahrtrichtung links.“ Oh, die Uckermarck. Wie schön!
Na, ich bin trotzdem froh, dass ich nicht aussteigen muss: Keine Menschenseele am Bahnsteig. Nicht einmal eine Tierseele. Ein bellender Hund hätte dem Ort ein bisschen mehr Leben eingehaucht. So aber wirkt er ein bisschen gespenstisch.

Prenzlau. Wir halten ziemlich lange. Es ist zehn nach zehn. Ich denke an meinen Liebsten. Das Spiel Ghana gegen Uruguay dürfte jetzt beendet sein. Promt erhalte ich eine SMS von ihm. Auf den ist auch in Sachen Fußball immer Verlass. Ich grinse vor mich hin.

Greifswald. Hier muss ich raus.

6 Gedanken zu „Der Heimat entgegen – eine Zugfahrt“

  1. AWTchen, Du alter Weiberheld!
    Naja, ich verzeih‘ Dir noch einmal, weiß ich doch, dass Du im Grunde ein ganz „Lieber“ bist. 😛
    Und? Das Spiel gestern noch gut verdaut? Die Spanier waren eben besser. Was soll’s. Beim nächsten Mal.
    Tö! Und Gruß.
    Coralita

    Liebe Anna-Lena,
    es stimmt. Was ich vor allem am Zugfahren liebe ist, dass ich die Gedanken kommen lassen kann. Und nicht erzwingen, wie so oft im Leben. Die Gedanken plätschern lassen – wie einen Bach. 🙂
    Einen schönen Tag Dir!
    Coralita

  2. Wunderbare Momentaufnahmen, liebe Coralita. Deine Vorlieben für Fahrten aller Art habe ich in deinem Berlin-Buch sehr genossen.

    Liebe Grüße aus dem Umland,
    Anna-Lena

  3. Liebste Coralita! (oder Hola!..;-D

    Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die warm gewordene Pricklplörre
    auch nach pappsüßen Gummibärchen geschmeckt hat. Nüch?!..;-)
    Ich verrate dir mal was:
    Bin ich mit S/U-Bahn unterwegs, erlaube ich mir manchmal
    den Spass, so richtig offensichtlich Dekolletés zu fixieren,
    um den weiblichen Prüfblick auszulösen. Es gelingt IMMER!..;-))

  4. Liebe Lilie,
    stimmt. Deswegen basieren viele meiner Kurzgeschichten in diesem Blog auch auf S- oder U-Bahnfahrten in Berlin.
    Ich grüße Dich lieb zurück,
    Coralita

    Hallo Himmelhoch!
    Ich liebe Deine Art Humor! Das wollte ich Dir schon seit geraumer Zeit sagen. 🙂
    Herzlich,
    Coralita

  5. Na, da hast du ja noch Glück gehabt, dass es ein Schaffner war, der keine Ahnung hatte, und nicht ein Arzt vor einer wichtigen OP. In England haben sie mal gerade einer Frau versehentlich das gesunde Bein amputiert, so dass sie innerhalb von paar Tagen beinlos war, denn das kranke musste wirklich ab.

  6. Liebe Coralita,
    eine wunderbare Momentaufnahme einer Zugreise – beim Lesen saß ich direkt neben dir … Ich mag Zugfahrten, denn die Gespräche, die man mitbekommt, die Studien, die man betreiben kann, sind einmalig.
    Liebe Grüße
    Iris

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