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Bremen gegen Bayern

Samstagabend. Heute spielt Bremen gegen Bayern. Mein Süßer und ich wollen das Bundesligaspiel im „Okeh“ in der Pariser Straße sehen. Und ein paar leckere Fajitas essen.

Yeah, den besten Platz ergattert: eine riesige Leinwand vor uns und – noch – freie Sicht. Doch halt: Bluescreen. Mein Süßer ruft nach der Bedienung. Ein technisches Problem, sagt sie, aber das kriegen wir schon in den Griff. Neuer Beamer und so. Oh nein. Wir rennen durch das Lokal – auf der Suche nach weiteren Sitz- und Sehmöglichkeiten. Wah, alles reserviert.

Doch dann haben wir Glück: Im hinteren Teil der Lokalität sind noch zwei Plätze frei, direkt vor einem Plasmabildschirm. Entspannt und zufrieden setzen wir uns und schauen in die Karte. Was denn, hier gibt es keine Fajitas mehr? Ratlose Blicke. Wir überlegen kurz, uns noch schnell eine andere Location zu suchen. Anpfiff. Der Süße schaut verzweifelt. Okay, bleiben wir eben – und essen Steak. Auch keine schlechte Wahl.

Ich schaue mich in unserer Nische um. In der Ecke sitzt einer, den ich von irgendwoher kenne: schlank, blond, Dreitagebart, nettes, aber unnahbares Gesicht. Ah, das ist doch der Doktor aus dieser Daily Soap! Marienhof. Derselbe Stil wie in der Serie. Das sieht man selten. Er schaut gebannt auf den Bildschirm.

Was tut man, wenn ein Sternchen in der unmittelbaren Nähe sitzt? Es gibt zwei Möglichkeiten: Man starrt hin. Möglichkeit zwei: Man tut so, als würde man ihn ignorieren. Ich entscheide mich für letzteres – und bin froh, dass ich eine Frau bin: Ich habe diesen unverschämt guten Weitblick und beobachte ihn einfach aus den Augenwinkeln. Der Liebste schaut mich fragend an. Ich bedeute ihm, sich jetzt nicht umzudrehen. Er dreht sich um.

Als die Bayern ihre erste absolute Torchance vergeigen, fasst sich der Doktor klatschend an den Kopf: „Das kann doch nicht wahr sein!“ Ich zucke zusammen. „Ihr Flaschen!“ Der brüllt regelrecht. In seiner Rolle ist er ein für meine Begriffe unscheinbarer, stiller Typ. Schreien tut er da eigentlich nicht. Im Gegenteil: Er hat eine eher schlichtende Funktion. „Mach den doch rein, Mensch!“ Der Süße und ich schauen ihn jetzt grinsend an. Er wird doch nicht die Beherrschung verlieren? Der Doktor schaut zurück – und wird ein bisschen rot.

Der Süße und ich – wir sind für Bremen. Bei einer verpatzten Torchance schreit mein Süßer auf. Der Doktor schaut ihn an und grinst.
Ausgang des Spiels: Null zu Null.

Keine Fajitas, dafür aber leckere Cocktails

Der Typ gegenüber

S-Bahnhof Frankfurter Allee. Ich warte auf meinen Zug, der mich zurück nach Charlottenburg bringen soll. Noch acht Minuten. Macht nichts. Ich bin in ein Buch über Typografie und Layout vertieft. Meine neueste fachliterarische Errungenschaft. Ich lese von X-Höhen, Ligaturen, Sakkaden und Sperrungen. Nicht zu fassen, was man selbst in Sachen Druckschrift und Schriftsetzen so alles beachten kann oder sogar sollte. Wieder so eine Wissenschaft für sich. Eine Wissenschaft, die ich verstehen möchte.

Jemand hat sich relativ dicht neben mich gestellt. Eine Mann. Doch das bemerke ich nur aus den Augenwinkeln. Zu spannend ist mein Buch. Ich bemerke auch, dass er mich von oben bis unten mustert. Auch das kommt vor. Frauen werden nunmal angestarrt. Ich lese weiter ohne auzuschauen.

Da kommt sie, die Bahn. Der Typ steigt nach mir ein. Ich sehe seinen Schatten mir folgen. Er setzt sich mir gegenüber. Erst jetzt schaue ich ihn mir richtig an. Ich starre ihn an – und muss lachen. Er stimmt mit ein.

Das erlebt man nun wirklich nicht alle Tage: Er trägt die gleiche Sonnenbrille wie ich. Eine originale Ray Ban. Eine, die noch in den USA gefertigt wurde. Das sehe ich sofort. Doch das ist nicht alles: Er trägt die gleichen Chucks wie ich – in genau derselben Farbe: hellgrau mit roten Streifen an der weißen Sohle. Die Hose: Bluejeans, genau wie meine. Beide tragen wir ein schwarzes Shirt. Selbst seine dunklen, lockigen Haare hat er – wie ich – zu einem Pferdeschwanz gebunden. Verstohlen mustern wir uns immer wieder gegenseitig.

Station Greifswalder Straße. Vor ein paar Monaten habe ich noch in der Gegend gewohnt. Der Typ erhebt sich – aber nicht, ohne noch einmal zu grinsen.
„Du bist Musikerin, richtig?“
Dann steigt er aus.

Coralita beim Lesen

In vino veritas

Einkaufen im Supermarkt. Für das Abendessen möchte ich eines meiner Leibgerichte zubereiten: Spaghetti Bolognese. Beim Kochen italienische Musik hören und ein Glas vollmundigen Rotweins trinken: eine tolle Vorstellung. Ich streife mit eiligen Schritten durch die verschiedenen Regale und suche zusammen, was zusammengehört. Aus dem Kühlregal greife ich schnell noch etwas Parmigiano, dann gehe ich hinüber zur Weinabteilung und wähle einen 2007er Merlot – hervorragend geeignet für Hackfleisch-Tomaten-Sauce. Ich freue mich darauf.

Mein Korb ist voll. Ich lege die Flasche oben auf und mache mich auf den Weg zur Kasse. Nichts wie nach Hause! Doch da passiert es: Die Flasche gleitet aus dem Korb. Es folgt ein lautes Klirren. Der schmackhafte, vergorene Rebensaft ergießt sich auf den weißen Bodenfliesen. Die Leute schauen in meine Richtung. Meine Gesichtsfarbe nimmt wohl gerade den Ton von reifen italienischen Tomaten an.

Ich schaue, ob jemand schaut. Ein junger Kerl um die 30 mit langen Haaren und einem Basecap auf dem Kopf bahnt sich seinen Weg an mir vorbei. Er sieht mitgenommen aus. Wahrscheinlich eine lange Nacht. „Boah, cool – jetzt bin ich wach“, sagt er und schaut auf die Scherben am Boden. Ich schmunzele und erwidere nur, dass es mir genauso geht. Adrenalin ist eben doch der beste Wecker.

Eine Mitarbeiterin, die das Geschehen beobachtet hat, blickt grimmig drein. Ich sehe ihre Mundwinkel entgleiten: Sie rutschen so tief nach unten, dass es mir beinahe unheimlich wird und ich beginne, mir Sorgen zu machen. Verlegen entschuldige ich mich. Doch die genervte Frau stapft wortlos an mir vorbei. Das finde ich nun unhöflich, denn ich habe die Weinflasche schließlich nicht absichtlich fallen lassen.

Ich frage mich, wieviele Kunden wohl täglich etwas Zerbrechliches fallenlassen, das sie anschließend wegwischen und beiseite kehren muss. Auf mein „Soll ich helfen?“ kommt nur ein „Neeee, lassen Se ma!“ zurück. Wirklich sehr nett. Ich stehe da, wie bestellt und nicht abgeholt und frage mich, ob es unhöflich ist, wegzugehen und meinen Einkauf fortzusetzen. Doch irgendwie bewege ich mich nicht von der Stelle.

Dann, die Rettung: Eine andere Mitarbeiterin kommt auf mich zu. Sie ist sehr groß, rundlich und trägt einen frechen Kurzhaarschnitt. Oft schon hat sie mich abkassiert. „Kann ja mal passieren. Schnappen Sie sich einfach eine neue Flasche.“ Na, warum denn nicht gleich so. Entscheidung abgenommen: Etwas erleichtert schlendere ich zur Kasse und bereite mich seelisch und moralisch auf mein leckeres Abendessen vor. Im Wein liegt Wahrheit – denke ich – und manchmal auch das Wesen eines Menschen.