„Wo kann man hier Süßes kaufen?“, fragt mich Ihno Tjark Folkerts am Rande des musikalischen Schauspiels, das gleich in der St.-Sylvester-Kirche in Quakenbrück stattfindet. Ich weise dem Geigenvirtuosen den Weg zum nächstgelegenen Supermarkt in der Innenstadt. Süßes spielt beim Trio LiMUSiN eine entscheidende Rolle: Jeder Zuschauer bekommt beim Einlass einen Schokoriegel gratis. So ist es Tradition. Es ist Freitag, Viertel vor sieben am Abend, die Kirche ist noch leer. Die letzten Vorbereitungen laufen. Gegen 20.00 Uhr geht es los.
„Phantastische Geschichten“ ist der Titel des neuen Frühjahrs- und Sommer-Programms, einer Kombination aus klassischen literarischen Werken und ebenfalls klassischer Kammermusik. Neben kürzeren Stücken von Tschaikowsky, Strauss und Bach präsentiert das Trio wichtige Komponisten des Rokoko: F. A. Hoffmeister, H.A. Hoffmann und F. Fiorillo.
Ich frage Ihno Tjark Folkerts, warum das Trio Quakenbrück gewählt hat. „Es ist ein liebenswertes, kleines Städtchen“, sagt der große Mann, der in London und Freiburg im Breisgau Violine studiert hat. Außerdem sei die Kirche bestens geeignet für eine Aufführung. Cellist Suren Anisonyan und Schauspieler Benedikt Vermeer nicken. Die Künstler kennen Quakenbrück schon: Im Dezember 2010 waren sie hier mit Charles Dickens‘ „Scrooge!“ zu Gast.
Benedikt Vermeer hat den literarischen Hut auf beim Trio LiMUSiN. Es gebe nur wenige Ensembles, die seit zehn Jahren in dieser Konstellation auf Tour sind, erzählt er. Kammermusik mit klassischen literarischen Werken zu verbinden, sei einzigartig. Vermeer, der in England und in Ottersberg studiert hat, hat eine sonore, eindringliche Stimme, die viel verheißt.
Kurz nach 20.00 Uhr gehen die Lichter aus im Kirchenschiff. Nur die Bühne mit ihrer in schwarzen und goldenen Farbtönen gehaltenen Kulisse ist noch beleuchtet. Drei Stühle, ein Tischchen mit einer Tontasse, ein paar Kerzen. Eine romantische, aber auch schaurige Athmosphäre. Los geht es mit dem Duo Nr. 3 A-Dur op. 5/3 und E.T.A. Hoffmanns „Lasset uns phantasieren!“ In den folgenden eineinhalb Stunden sind urkomische, dann wieder melodramatische oder gar bedrohliche Laute und Klänge zu hören. Das Trio nimmt die Zuschauer mit in eine Welt der Fantasien, höheren Welten und Träume.
In den Gesichtern des Musiker-Duos stehen Ausdruck und Leidenschaft. Suren Anisonyan, der am Staatlichen Komitas-Konservatorium in Armenien studiert hat, trägt eine Sonnenbrille. Erst später nimmt er sie wieder ab. Sie lässt ihn kühl, aber auch undurchdringlich wirken.
„Das kann ja heiter werden“ lautet der Untertitel des Programms. Und das ist es auch, aber nicht nur. Bei Edgar Allan Poes magischem Poem „Der Rabe“ lehrt das Trio seine Zuschauer das Fürchten. Das Gesicht von Benedikt Vermeer ist jetzt dunkelrot angeleuchtet, die Augenhöhlen liegen tief im Schatten. Seine raumfüllende Stimme und das Krächzen der Streichinstrumente bei „Nim-mer-mehr!“ hallen durch die Kirche. Die etwa 50 Zuschauer sitzen aufrecht und gebannt in den Bänken.
„Das waren schon als Kind meine Lieblingsgeschichten. ‚Der Rabe‘ und ‚Der Sandmann‘ haben mich schon immer interessiert“, schwärmt der Schauspieler. Auch Ringelnatz und Puschkin erklingen, Gedichte und Szenen von Wilhelm Busch und Ludwig Thoma. ”Ein Münchner im Himmel“, mit original bayrischem Dialekt, sorgt für Vergnügen.
In der Pause gibt es Saft, Wasser und Rotwein. Auch das ist Tradition beim Trio LiMUSiN.
Dass sich die „Phantastischen Geschichten“ mit „ph“ schreiben sei kein Protest gegen die Rechtschreibreform. Es sei ein Zeichen, „dass wir sowohl textlich als auch musikalisch auf den Reiz ‚alter‘, zum Teil vergessener Werke zurückfassen und sie mit neuem Leben füllen“, so die Musiker.
Im Jahr 2002 lernten sich die drei kennen und gründeten sogleich das Trio LiMUSiN. „Bei einem gemeinsam gestalteten Themenabend rund um einen Kurzfilm hatten wir die Idee, virtuose Kammermusik und rezitierendes Schauspiel zusammenzubringen“, so die Künstler. Mittlerweile hat das Trio ein Repertoire aus elf abendfüllenden Programmen auf die Beine gestellt.
Zwei Zugaben am Ende des Abends. Dann geht das Licht im Kirchenschiff wieder an. Viele Zuschauer bleiben noch sitzen. Vielleicht, um das Erlebte noch ein bisschen auf sich wirken zu lassen.
>> Dieser Artikel ist auch hier sowie in der Printausgabe erschienen.