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Heimchen, Herde – und Charles Dickens

Manchmal wünschte ich, unsere Altbauwände wären nicht so hellhörig. Und doch: Auch aus ungewollt an- und mitgehörten Gesprächen (oder Gebrüllen) kann man eine Menge lernen.

Ein Paar streitet sich. Sie sind über den ganzen Hof zu hören. Sie schreit rum, er habe nie Zeit für sie. Er beschwert sich, es sei ja auch nicht einfach, sie zu begeistern. Da würde er lieber mit seinen Freunden etwas unternehmen. Sie sagt, sie würde gern mal wieder etwas Schönes mit ihm kochen und ein Glas Wein mit ihm trinken. Mit ihm reden. Daraufhin bezeichnet er sie als Heimchen am Herd. Eine Tür knallt. Das Gespräch ist zuende.

Das „Heimchen am Herd“ hallt noch eine Weile in mir nach. Ich habe neuen Nährstoff für mein Sprachwissenschaftlerhirn gefunden. Ist eine Frau ein Heimchen, wenn sie sich gern daheim am Herd befindet?
Ich blättere in einem Bedeutungswörterbuch und staune: Das „Heimchen“ ist eine Verniedlichungsform von „der Heime“. Der. Männlich. Licht ins Dunkel: Der Heime ist eine männliche Grille!

Die Verniedlichung „Heimchen“ wurde bei uns vor allem durch die deutsche Übersetzung einer bekannten Erzählung von Charles Dickens bekannt: Cricket on the hearth. Die Grille am Herd. Die Geschichte endet mit dem Satz: „Ein Heimchen singt am Herde, ein zerbrochenes Kinderspielzeug liegt am Boden, und nichts ist mehr übriggeblieben.“

Ich lausche hinüber zu unseren Nachbarn. Noch immer Stille.

Grotten, Schwaben und Kröten

In der Damenabteilung einer bekannten schwedischen Modekette. Eine Frau mittleren Alters befühlt den Stoff eines Kleidchens. Sie runzelt die Stirn. Eine andere Frau stellt sich neben sie. „Grottenhässlich“, sagt jetzt die mit dem Kleid. Die andere nickt bestätigend. Grotten. Ich war einmal in einer. Mit zwölf Jahren. In Tschechien. Und ich erinnere mich sehr genau daran, wie da das Licht ausging … Aber das ist eine andere Geschichte.

Warum sagt man eigentlich „grottenhässlich“? Kommt das denn von den Grotten?
Wieder zu Hause, recherchiere ich: Der Begriff kommt aus dem Schwäbischen! Da bedeutet nämlich „krott“ Kröte.  Kröten sind also hässlich. Weiß ich nicht. Nee, finde ich eigentlich nicht. Oh, und da gibt es noch eine andere Theorie. Und die besagt, dass „grott“ aus dem Niederdeutschen kommt. Und da bedeutete das wohl verrottet. Ja, verrottet ist meist auch hässlich.
Damit kann ich mich anfreunden. Aber nichts gegen Kröten!

I’m no superstar …

Kühl ist es heute. Richtig angenehm. Viel zu heiß war es in den vergangenen Tagen. Aber: Ich will nicht klagen. Der Winter war viel zu kalt und viel zu lang. Da werde ich jetzt den Teufel tun und mich über ein paar heiße Wochen beschweren. Und dennoch: Ich habe das Gefühl, meine Haut heute aufatmen zu spüren. Es drängt mich raus. Die Laufschuhe an, und ab in den Schlosspark. An der Spree entlang. Tut das gut. Es riecht ein bisschen nach Seetang.

Nach zehn Minuten laufe ich am Kinderspielplatz vorbei. Mitten auf dem Sandweg steht ein Pärchen. Mann und Frau halten sich – fest umschlungen. Sie hat ihr Gesicht tief in seiner Brust vergraben. Er schaut traurig, streichelt zärtlich ihren Schopf. Eine Träne rinnt ihm an der Nase entlang das Gesicht hinunter. Er nimmt keine Notiz von mir, als ich mich noch einmal nach ihnen umdrehe. Es gibt nur die beiden. Und sonst nichts auf dieser Welt. Ihre Schultern zucken. Sie weint.

Remady P&R – No Superstar. Das kracht. Ich jogge schneller, vergesse das Paar. Mein Puls rast. Ich fühle mich beschwingt.

Runde zwei! Fast dreißig Minuten sind jetzt geschafft. Irgendwann komme ich wieder am Spielplatz vorbei. Sie stehen noch immer da. Ganz genau so wie vorhin. Na, das ist ja nichts Ungewöhnliches, wenn man sich so gern hat. Und das haben die beiden ganz offensichtlich. Aber warum weinen sie?

Runde Nummer drei. Meine letzte Runde. Dann habe ich die Schnauze eine Stunde voll. Ich bin auch schon recht erschöpft. No Superstar und co. haben mich ganz schön ins Rennen kommen lassen.

Noch immer. Eng umschlungen. Sie stehen immer noch am selben Platz. Ein bisschen im Stehen zusammengesackt – so scheint es.
Ob sie noch nach Runde vier hier wären? Ich bin versucht, noch weitere zwanzig Minuten länger zu laufen. Doch die Erschöpfung siegt.
I’m no superstar.

Jogger im Grunewald