Gerade noch darüber berichtet, folgt das Beweisbild auch schon auf dem Fuße.
Folgender Anblick präsentierte sich mir vor etwa einer Stunde in Prenzlauer Berg.
Berlins verlassene Fahrräder
Überall in Berlin – hier vielleicht frequenter als in irgendeiner anderen Metropole auf diesem Erdtrabanten – sieht man sie dahinvegetieren: an einer Straßenecke stehend, achtlos auf einen Bürgersteig geworfen, abgelegt im Gebüsch oder angekettet an Fahrradständern vor den Universitäten. Großstadtdrahtesel haben es nicht leicht. Verlassen und herren- beziehungsweise damenlos könnten die Fahrradleichen jede für sich ihre jeweils individuelle und doch gleichermaßen traurige Geschichte erzählen.
Ein rotes, bereits dem jähzornigen Rost anheimgefallenes Rad lag vor einiger Zeit in der Greifswalder Straße in der Nähe des in hiesigen Szenekreisen eher mehr als weniger bekannten Friseurladens, der sich selbstbewusst „Locke & Glatze“ nennt. Sowohl Locken als auch Glatzen sind wohl besonders auf- und manchmal an- oder erregende Launen der Natur, und auch meine Haarbälge sind nicht rund, sondern oval, doch ich schweife ab. Das besagte Rad jedenfalls beschrieb eine energische Acht, und ein paar Speichen waren aus den Rädern gebrochen. Dort lag es also und wartete nur noch auf den weiteren Oxidierungsprozess.
Ein anderes, nicht minder bemitleidenswertes Geschöpf, sah ich am S-Bahnhof Prenzlauer Allee auf der Eisenbahnbrücke liegen. Es hatte – im wahrsten Sinne des Wortes – ein Rad ab. Doch auch dieses Velo war nur eine weitere unter den zahlreichen Fahrradwaisen Berlins – trostlos an Gitter gelehnt, hingeschoben, abgeschoben, nutzlos geworden.
Räder werden vor allem gebraucht, um schnell und staufrei oder um den Nahverkehrskosten zu entgehen, flexibel von einem Ort zum anderen zu gelangen. Dabei vermeidet jeder pfiffige Berliner oder Wahlberliner, zu teure oder zu schicke Räder zu besitzen, da diese dann, wie sich erwiesen hat, oft in den illegalen Besitz anderer gelangen, die wiederum ihr soeben „erworbenes“ Rad an Dritte oder gar Vierte verlieren.
Man schabt nun an Hauswänden vorbei, fällt oder wird angefahren. Irgendwann ist dieser Drahtesel nur noch ein elendes Häufchen Schrott und wird achtlos in eine Ecke geworfen. Aus diesen und sehr wahrscheinlich sogar vielen weiteren Gründen achtet man in Berlin peinlich genau darauf, ein sehr dezentes, möglichst gebrauchtes oder gebraucht wirkendes Rad zu besitzen.
Die lädierten Fahrräder in der Greifswalder Straße und in der Prenzlauer Allee sind inzwischen verschwunden, doch andere verweilen sehr lange an ihren Abstellorten. Zumeist sind dies sehr belebte Orte: Am S-Bahnhof Warschauer Straße zum Beispiel war einmal ein Rad etwa ein Jahr lang dem Wittern des Wetters ausgesetzt. Doch irgendwann einmal war auch dieses verschwunden sein.
Ein Tall Caffè Latte für Cooraaa?!
Eine Kollegin schlug kürzlich in der Mittagspause vor, einen Kaffee trinken zu gehen. Dies befand ich für eine sehr gute Idee – vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass mir das üppige Mittagessen noch ziemlich schwer im Magen lag und ich mich manchmal gern der Illusion hingebe, Kaffee könne bei der Verdauung dienlich sein.
Es sollte zur Starbucks-Filiale direkt am Potsdamer Platz gehen, wobei das Wort „Filiale“ hier nicht richtig gewählt ist. Man verwendet einen anderen Begriff, dabei ist es selbstverständlich ganz egal, um welche Filiale es sich nun handelt. Dass es offensichtlich nur die Kaffeehaus-Kette selbst ist, die das Lexem „Filiale“ aus ihrem Sprachgebrauch eliminiert hat, wird schnell klar, wenn man auf den deutschen Internetseiten nicht fündig wird, sucht man nach einer Starbucks-Filiale in der Nähe. Doch ist der Erfolg umso größer, wenn man sich denn mit einem so genannten Starbucks Coffee House abfinden kann – und das gibt es in Berlin unter Garantie auch in nächster Nähe.
Mit einem leicht schiefen Grinsen, das mir nur in einen statt in beide Mundwinkel rutscht und gleichermaßen unwillkürlich wie bewusst meine auffällig skeptische Haltung zum Ausdruck bringen soll, lasse ich mich schließlich überreden, in das Starbucks Coffee House der Wahl meiner Kollegin zu gehen. In der Tat nämlich betrete ich – vermutlich aus denselben Gründen wie Tommy Jauds Vollidiot – diesen Laden äußerst selten. Zu nervenaufreibend, zu teuer, zu aufgesetzt freundlich finde ich dieses ganze us-amerikanische Get your individual fresh and american coffee-Prozedere. Ich gehe hinein und muss daran denken, dass auch bei mir eine Frau ihre Finger im Spiel gehabt hat. (Der Vollidiot ist damit mächtig auf die Nase gefallen, ich hatte da größeres Glück.)
Nervenaufreibend. Schlimm genug, dass ich mich nicht entscheiden kann, beispielsweise zwischen einem so genannten White Caffè Mocha, dem Tazo® Iced Chai Tea Latte oder einem Getränk mit dem noch umständlicheren Namen Caramel Frappuccino® Blended Coffee (ich habe Mühe, mir den Namen zu merken! Außerdem ist es Winter, da möchte ich ein Heißgetränk), drängt scheinbar auch die Zeit, denn ein junger Mann – der Angestellte – mit hektischen Flecken im Gesicht und um die zwanzig, schaut mich bereits genervt fragend und frech bestimmt an.
Er fixiert mich beinahe, und ich spüre, wie er es schafft, einen Strom der Eile durch meinen Körper ziehen zu lassen. Ich versuche fast erbost, mich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, doch langsam sollte ich mich wirklich entscheiden. Der Postpubertäre dringt weiter in meine Psyche vor: Er möchte nun wissen, was es denn für mich sein darf, reckt das Köpfchen noch weiter in meine Richtung, sein Blick brennt sich in meine Netzhäute.
In diesem Moment springt mir zu allem Überfluss – als wäre ich nicht schon genug unter Druck gesetzt! – auch noch die Phrase „Coffee of the Week“ ins Auge. Sie bringt mich kurz zum Sinnieren, doch ich entscheide, nichts damit anfangen zu können. Natürlich könnte ich gezielt danach fragen, um was es sich bei diesem Getränk genau handelt, doch dazu fehlt mir jetzt wirklich die Lust, einmal abgesehen davon wartet meine Kollegin bereits mit ihrem Caramel Macchiato („flavored“ nennt man das) auf mich.
Völlig überfordert, doch jetzt ganz sicher über das, was ich will, bestelle ich ziemlich lautstark einen „großen Milchkaffee“. Auf die Frage des Angestellten „Also einen Tall Caffè Latte für Dich?“ nicke ich energisch und fast schon ein bisschen beleidigt mit dem Kopf, sage „Von mir aus auch das“ und hoffe, dass das alles bald ein Ende hat.
Dann, ich erinnere mich, dass es immer passiert, wenn ich in einer Starbucks-Filiale war, stellt er mir plötzlich die Frage nach meinem Vornamen. Ich hätte es wissen müssen, und dennoch bin ich völlig überrumpelt. Ich reiße die Augen auf und starre ihn an. Beinahe entgleitet mir eine patzige, gezielt ironische Antwort, die ich an dieser Stelle lieber verschweige, denn es besteht ja immerhin die Möglichkeit, dass besagter Angestellter diese Zeilen hier einmal liest.
„Cora“, sage ich also, und dann kommt mir wieder die Antwort auf das Warum in den Sinn. Ich hätte meinen Namen nicht verraten dürfen oder einen wählen müssen, der wirklich auffällt. Einen Namen, nach dem sich alle umdrehten, würde er laut aufgerufen – „Hillary“ zum Beispiel. Das wäre doch ein Spaß und hätte zudem noch einen aktuellen politischen Zeitbezug.
Teuer. Der Preis ist hoch, den ich da für meinen simplen Milchkaffee zahle (er wird mir später in einem unscheinbaren, beigefarbenen „Mug“ serviert). Ich reihe mich in die Schlange der Wartenden ein und lasse meinen Blick großzügig durch die überfüllte Räumlichkeit schweifen, in der vorwiegend junge Menschen in meinem Alter sitzen, stehen oder anderweitig umtriebig sind.
Sie diskutieren, gestikulieren, lachen oder lungern einfach schweigend und beobachtend herum. Einige scheinen nachzudenken oder auf Godot zu warten, getarnt hinter einer Zeitung im neumodischen To-Go-Format, das heißt hier: kompakt. Dass er (Godot) niemals kommen wird, ist ihnen vielleicht sogar schon bewusst, und sie ignorieren es geflissentlich. ‚Das Leben, eine mehr oder minder spannende Beschäftigungstherapie‘, schießt es mir zum etwa tausendsten Mal in den Sinn.
Auch ich denke nach. Darüber, wie lange es wohl noch braucht, bis mein Kaffee zubereitet ist, damit ich ihn schnell trinken und anschließend auch rasch wieder verduften kann. Da brüllt auch schon die bekannte männliche Stimme eher fragend als aufrufend: „Ein Tall Caffè Latte für Cooooooraaaaaaa?!“
Ich warte einen Moment, des Spaßes halber. Ich bin sicher, dass er noch einmal rufen wird. Er sieht mich – seine Stirn in Falten gelegt. Erst, als ich auffällig hineile, um mein Heißgetränk in Empfang zu nehmen, entspannen sich seine Gesichtsmuskeln sichtlich. Nun kann er einen Haken an meinen Namen machen. Wie wird er erst reagieren, wenn er erfährt, dass die bekanntlich niemals schlafende Konkurrenz, eine weltbekannte Schnellrestaurant-Kette, künftig über ihre gängigen Fastfood-Angebote hinaus einen vielleicht noch zukunftsweisenderen Kaffeeservice anbietet? An der Börse jedenfalls ist dieses Unternehmen schon einen Schritt weiter. Ich grinse und stelle mir das Fleckengesicht mit peinlicher Mütze vor.
Beim Hinausgehen höre ich eine alte Frau, die verzweifelt versucht, etwas zu bestellen, sagen: „Ich möchte ein Stück Schokoladenkuchen. Ist mir doch egal, wie Sie das hier nennen!“
Du schaffst es, Mädchen!
Berliner S-Bahn- und U-Bahnführer können grausam sein. Das hat wohl jeder hiesige Großstädter oder Besucher der Metropole schon festgestellt, wenn der Abend viel zu schön war und auch viel zu lange gedauert hat.
Man kommt die Treppen hoch, nimmt gar zwei oder drei Stufen auf einmal und sieht es bereits auf der Anzeigetafel blinken. Der Zug steht da und ist abfahrbereit. Darunter ist – noch sehr verdächtig statisch – die Information erhältlich, dass der nächste Zug erst in etwa 23 Minuten kommt…
Man hechtet. Man versucht mit jeder Muskelfaser, diese dort noch stehende Bahn zu erreichen. Doch zu spät. Mit einmal Male blinken die Warnlämpchen über den Türen grausam rot auf. Nur ein paar Millisekunden später schließen sich auch schon die Türen.
Jeder, der bereits in dieser Situation war, kann nachvollziehen, wie ärgerlich und frustrierend das ist – erst recht im ja doch so eisigen Winter.
Am vergangenen Donnerstag, man schrieb den 13. Dezember 2007 – das muss mein Glückstag gewesen sein -, kam alles ganz anders und völlig unerwartet: Situation wie oben beschrieben. Und doch mit einem Unterschied. Die Warnlämchen leuchteten zwar, und die Türen schlossen sich, doch nachdem ich dem Zugführer mit einer völlig frustrierten Armbewegung signalisierte, dass ich genau das bin – nämlich frustriert – kam eine Durchsage vom selbigen: „Du schaffst es, Mädchen!“ schrie er durch die Lautsprecher… und öffnete mir den Zug.
Ich hatte 23 Minuten meiner wertvollen Zeit geschenkt bekommen.
Me, my Berlin and… synthetic music
Heute laufe ich nach Hause. Wie gewöhnlich die U-Bahn nehmen? Oh nein, viel zu wenig sieht man, viel zu wenig riecht man – tausende Male schon genutzt. Mein Herz braucht Luft heute. Ich muss ihm mehr Raum für seine Energie geben. Und… den Bus nehmen? Ich zögere kurz, denn oft mache ich das nicht. Nein… Heute laufe ich! Niemand hetzt mich, und zu meiner Freude erwartet mich da draußen ein gespenstisch anmutender, unheimlich nebliger Fastwintertag. Ich bin sicher, dass das Abenteuer dort draußen auf mich wartet.
Wo beginnt er nun, dieser Marsch? Ganz spontan, ganz unkonventionell, ganz unrollend bahnt er sich seinen – zugegeben noch etwas spastischen – Lauf vom emsig umgarnten, pseudoweihnachtsfreudig und kommerziell angestrahlten Ort, dem Potsdamer Platz, an dem sich von früh bis spät Geschäftsleute in Spitzenklasseanzügen und edelweiblichen Kostümchen tummeln, bis nach Hause.
Ich biege in die Leipziger Straße ein, die – wie immer – bis zum Erbrechen mit Autos verstopft ist. Ich bin froh, dass ich nur meine zwei – wenn auch langen – Beine und keine Räder habe, die ich durch das hupende Gekröse schleusen muss. Oh. Und ich war schlau und habe mir Musik in die Ohren geklemmt – synthetische Musik. Ich grinse, und ich laufe los.
Ich laufe geradeaus die Leipziger entlang, doch irgendwann nehme ich einen Umweg über die Wilhelmstraße – vorbei am U-Bahnhof Mohrenstraße. Dort habe ich einmal in einem alten und gebrechlichen Auto gesessen, vertieft in einen Moment, der einer der schönsten in meinem Leben war. Dort befindet sich auch ein Kaisers – in dem habe ich anschließend voller Freude eingekauft. Heute gehe ich nicht hinein. Ein bisschen Nostalgie, und doch: satt erfüllte Sehnsucht. Meine orangefarbene Tasche taschiert meinen Hintern, ein bunter Schal kitzelt mein Kinn.
Als ich die Friedrichstraße erreiche, biege ich wieder rechts ab und befinde mich, nachdem ich den Bahnhof Stadtmitte erreicht habe, wieder auf der Leipziger Straße. Nach beinahe neun Jahren Berlin kenne ich mich mehr als gut aus in dieser niemals schlafenden, tosenden, wütenden, atemberaubenden Metropole. Ich liebe ihren Zorn. Hier möchte ich sein. Das wird mir mehr als bewusst in diesem Moment.
Ich habe – das ist nun viele zehn Minuten her – inzwischen den U-Bahnhof Spittelmarkt erreicht. Selbst er erinnert mich an kurze, doch intensive, kleine Begebenheiten. Die Leipziger Straße wird hier zur Gertraudenstraße. Irgendwann, ich habe inwischen die Alexanderstraße mir zur Linken, die imposante Karl-Marx-Allee und die Mollstraße überquert, erreiche ich die Otto-Braun-Straße und laufe vorbei an (n)ostalgischen Plattenbauten. Hier glitzert, wohin das Auge blickt, konservativer Weihnachtsschmuck in den alten Fenstern. Ich liebe sie in diesem Moment.
Ich muss lächeln und drehe die Musik lauter. Ich denke an Rügen, an die kleinen ungemütlichen und so verloren wirkenden Plattenbauten, die man sieht, wenn man von Stralsund in Richtung Ostseebad Sellin fährt. Ich denke an ein kleines Mädchen. Sie ist neun Jahre alt. Ein Onkel von „drüben“ ist zu Besuch. Gemeinsam macht man eine Fahrt nach Kap Arkona. Es ist windig dort, nein, stürmisch. Das Mädchen ist blass und mager, sie schaut ihren Onkel vertrauensvoll an. Er nimmt sie in die Arme und drückt sie fest an sich. Sie ist glücklich.
Covenant. VNV Nation. Daft Punk und Pink Floyd. Ich drehe die Musik lauter und erreiche irgendwann die Straße, in der ich lebe: die Greifswalder Straße im Prenzlauer Berg. Jetzt bin ich bald da. Mein Kiez. Noch immer die synthetische Musik im Ohr, wippenden Schritts, im Takt der Musik mal ein Bein nach vorn werfend – und mich fast wie eine kleine Diva fühlend -, lächelnd, den Kopf nach rechts und links bewegend, das Haar verweht im winterlichen Wind.
Allein mir selbst – inmitten flippiger Mädchen mit langen, dicken, buntgestrickten Schals und coolen Typen mit unkonventionellen Ripcaps. In diesem Moment bin ich glücklich – bis über beide Ohren. Ich bin jung.