Übertrieben übertriebene Höflichkeit…

… konnte ich heute Morgen beim Tramfahren erleben. Dort, wo ich einstieg, wollte jemand aussteigen – das kommt vor. Jemand mit einer sperrigen Reisetasche stand im Türbereich und wollte sich – so schien es – seinen Weg nach draußen bahnen. Es hätte ein Leichtes für ihn sein können, seine Füße zu bewegen und sie die Stufen hinabgleiten zu lassen, doch nein, so tat er nicht.

Der Betaschte ließ zunächst einmal alle – an sich vorbei – passieren, die ebenfalls aussteigen wollten. Dabei konnte ich, die ich mich noch immer vor und leider noch nicht in der Bahn befand, ein heilloses Durcheinander beobachten. Als der junge Mann dann selbst auf den Bahnsteig treten wollte, überlegte er es sich urplötzlich anders und ging wieder zurück in die Bahn, wobei er mit seiner Tasche wohl ein halbes Dutzend Leute taschierte. Mahnende Blicke von allen Seiten erntete er – selbst ich konnte nicht an mich halten!, – ließ er sich doch erst soviel Zeit bei seinem stetigen „Bitte nach Ihnen“! Eine Weile lang habe ich ihn beobachtet, weil ich doch so unbedingt ergründen wollte, was den uneilig Reisenden dazu bewog, derartig zu handeln.

Ein paar Haltestellen weiter – vielleicht drei oder vier – ereignete sich dasselbe, doch diesmal stieg er aus. Ich blickte ihm hinterher. Auf der Suche nach einer freien Gehnische in seinem Weg, den zu bahnen ihm die ganze Zeit doch so schwer fiel – er wollte um keinen Preis irgendjemanden behindern! -, stolperte er beinahe über seine eigenen Füße und entschuldigte sich dabei unzählige Male. Mein Herz schlug wie wild vor Aufregung, und es brauchte ein paar weitere Stationen, bis ich mich erholt hatte.

Vor dem Essen wird nicht geschnuckt!

Als morgens unser Großraumbüro betrete, stehen dort Teller mit bunten Naschereien – Süßigkeiten, Knabberzeug und Mandarinen – zur allgemeinredaktionellen Schlemmerei bereit.

Heute ist Nikolaus, da „kann man schon mal naschen“. Doch am Morgen? Am Vormittag?
Meinem Kollegen am Tisch hinter mir entfährt dann und wann ein sehnsuchtsvolles Seufzen – doch er widersteht bis zum Mittagessen der Versuchung. Denn: „Vor dem Essen wird nicht geschnuckt!“

Schnucken – ein Wort, das ich zuvor nicht (oder zumindest nicht bewusst) gehört hatte und das wohl – so klärt mich besagter Kollege auf – aus dem Rheinischen stammt und soviel wie naschen bedeutet.

So weit, so gut, doch unweigerlich muss ich bei diesem Verb und der gelieferten Definition an die liebevolle Koseform Schnucki denken. So nennt man doch für gewöhnlich Menschen, die man mag. Und doch habe ich zuvor nie den Sinn dieses Wortes hinfragt. Da liegt für mich die Annahme nahe, dass schnucken und Schnucki irgendetwas miteinander zu tun haben müssen.

Und dann ist da noch diese kleine und besonders putzige Schafrasse, die vor allem in nordischen Gefilden über die Wiesen springt: die Heidschnucke. Sehr schnuckelig! Sehr beschaulich ist es vor allem, wenn eine dieser schnuckeligen Heidschnucken auf der Wiese schnuckt.

Bei all dem Geschnucke habe ich Appetit bekommen und gehe jetzt … essen.

Pola en route

Einmal die weite Welt umrunden oder doch zumindest einen großen Teil davon kennenlernen – eine atemberaubend schöne Vorstellung für viele Menschen, ob alt oder jung. Auch für mich. So unerreichbar fern erscheint so manchem die vage Idee vom „Einfach los!“, und doch habe ich hautnah miterlebt, wie sie in Windeseile in die Tat umgesetzt werden konnte: Meine Cousine Anja erfüllt sich zur Zeit einen langersehnten Traum und reist um den Globus.

Gestartet ist sie im April 2007 in Berlin Kreuzberg. Hier hat sie vorher gelebt. Nachdem sie sich – Deutschland immer etwa acht Stunden voraus – ein paar Wochen in Sydney aufgehalten hatte, ging es für sie im Mai zunächst immer weiter durch Australien nach Melbourne und im Juni unter anderem durch das Outback nach Alice Springs und Darwin. Einen Monat später schrieb sie den Daheimgebliebenen bereits aus Indonesien, erlebte Bali, Singapur und Sulawesi. Hier hielt sie sich eine ganze Weile auf. Ihre nächsten Reisedestinationen: Kei Islands (Maluku) und Papua.

Reisehungrige werden sich auf Anjas Reiseblog Pola en route gern und bisweilen begeistert durch die zahlreichen Links klicken und sie auf ihren verschiedenen Stationen begleiten. Meine blonde und leicht verrückte Cousine zeigt unter anderem bezaubernde und beeindruckende Fotos von Städten, Dörfern, Landschaften, Menschen und Momenten und berichtet detailgenau, was sie erlebt und wen sie in den verschiedenen Ländern und Regionen so alles getroffen und wen sie bereits näher kennengelernt hat. Dabei gibt sie den Lesern das Gefühl, alles hautnah mitzuerleben und an den Begegnungen – ob mit Mensch, Tier oder Landschaft – zumindest mental teilzunehmen.

So kann man beispielsweise erleben – und das sieht ihr wieder einmal ähnlich! – wie sie dreckverschmiert auf einer Farm arbeitet, mit Schiff, Fähre und Segelboot die Meere erkundet, sich – allein oder gemeinsam mit anderen Reisewütigen oder Einheimischen – durch den dichtesten Urwald kämpft, auf Berge in luftiger Höhe kraxelt oder mit verrosteten Schrottkarren durch vertrocknetes Land und Wüstenlandschaften saust. Kein Abenteuer ist ihr dabei zu gewagt, kein Fluss zu tief und kein Weg zu weit. Immer mit im Reisegepäck: eine gehörige Portion Schalk und Humor. Pola en route – das kommt richtig gut.

Was man auf den ersten Blick erkennen kann, und dabei ist es egal, welchen Beitrag man von ihr liest und auf welchem Bild man sie wiedererkennt: Meine Cousine vermisst Deutschland wohl nicht sehr. Wie lange sie noch unterwegs sein wird und ob sie jemals wiederkehren wird, weiß wahrscheinlich nicht einmal sie selbst.

Bleibt zu wünschen, dass Anja noch viele spannende und abenteuerliche Dinge erleben und hoffentlich weiter darüber berichten wird. Ich für meinen Teil versinke, jedes Mal, wenn ich in ihrem Reisetagebuch stöbere, in meinem eigenen Fernweh und schmachte der Welt ins Gesicht… Doch wer weiß, vielleicht mache ich mich eines Tages selbst auf ins ungewisse Abenteuer, denn nicht nur der gleiche Name, sondern auch unsere gemeinsame Leidenschaft – das Reisen – verbindet uns Cousinen. Und das, obwohl uns – dafür jedoch fast auf den Tag genau – zehn Jahre und einige tausend Kilometer trennen.

Den Tränen gewidmet

Mit meiner großen Schwester genieße ich morgens im Bett ein leckeres Frühstück – bestehend aus frischem, duftendem Kaffee, Orangensaft und Lachsbroten. Wir schauen einen dänischen Film. Der Titel: Nach der Hochzeit. Wer dänische Filme gesehen hat, weiß, wie intensiv sie von alltäglichen Gefühlen, Beklemmungen und Qualen erzählen. Und dieser Film rührt mich besonders an.

Wir sitzen also dort, die Köpfe an eine Stütze gelehnt, halb liegend, den Nacken leicht nach hinten geneigt und mit unseren Kaffeetassen in den Händen. Wie Frauen das eben so machen: Wir umklammern die Tassen mit beiden Händen. Der Kaffee wärmt uns. Ab und an entgleitet einer von uns ob der bewegenden Szenen ein Seufzen. Manchmal schauen wir uns an und grinsen, weil wir uns ertappt fühlen bei dem, was wir offentlich gerade beide denken.

An der Stelle, als die Protagonistin einen ergreifenden, wahren, alles bedeutenden Satz spricht, der mich flutartig anrührt, passiert es: Meine Tränendrüsen haben zuckend und völlig unerwartet zu arbeiten begonnen. Das Wasser rinnt tropfenartig zu beiden Seiten der Augen außen an meinen Jochbeinen vorbei, die Wangen entlang, meine Wangenknochen gleichmäßig umspielend, den Hals berührend, um letztlich gemeinsam und synchron in der Mulde etwa auf Höhe der Schlüsselbeine Halt zu machen. Es wird langsam kühl auf der Haut. Ich wische die Tränen weg. An meinen Händen beginnen sie zu trocken, und irgendwann sind sie einfach verschwunden.

Ich widme diesen Eintrag dem salzigen Gut, das – mal berechenbar und mal unberechenbar, plötzlich und dann wieder schleichend – aus unseren Augen quillt, mal verursacht durch tiefe Trauer, dann wieder energisch hervorkletternd vor Wut und manchmal sanft kitzelnd die Seele umspielend – vor Freude.
Tränen sind etwas ganz Besonderes.

Freundschaft

Du liest den Titel und weißt sofort, dass ich jetzt von Dir erzählen werde, dass ich bestimmt nur Dich meinen kann. Ganz kurz durchfährt Dich ein Schauer, heftig wie ein zartes Erschrecken. Du erkennst jetzt ein bisschen aufgeregt, dass tatsächlich Du der Mensch bist, von dem ich schreibe.

Ich mache es kurz, um Dich nicht in Verlegenheit zu bringen, denke ich, und doch weiß ich, dass es Dir keineswegs etwas ausmachen würde, schriebe ich hier selbst unter expliziter Nennung Deines Namens einen Roman über unsere Freundschaft.

Ich blicke in Dein Gesicht, das manchmal offen ist wie ein Buch. „Nimm‘ meine Hand“, möchte ich sagen „und geh‘ mit mir bis ans Ende dieser Welt.“ Doch ich sage es nicht, denn viel zu abgedroschen sind diese Worte, und viel zu oft benutzt wurden sie von menschlichen Lippen. Ich denke es leise in mich hinein, und doch hämmern die Worte fordernd gegen meine Schläfen. Sie verlangen, dass man sie herauslasse: „… Und wenn nicht bis an das Ende dieser Welt, so doch wenigstens bis an das Ende des nur für uns sichtbaren Horizonts…“.

Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar, hat er einmal geschrieben. Er, der Mann, das Kind – Antoine. Er hat es gelebt, das Wesentliche… Und auch Du kümmerst Dich wenig um das, was andere von Dir denken, für was sie Dich halten könnten.

Du kannst mit Deinem guten Herzen nicht nur Dinge sehen, Du machst, dass auch andere das Wesentliche sehen. Du willst protestieren und sagen: „Aber ich bin doch gar nicht immer so gut!“. Und dennoch: Du bist für mich der kleine Prinz. Ich bin voller Freude, Dich in meinem Leben zu wissen.

Mein Leben mit Söhnen