Du schaffst es, Mädchen!

Berliner S-Bahn- und U-Bahnführer können grausam sein. Das hat wohl jeder hiesige Großstädter oder Besucher der Metropole schon festgestellt, wenn der Abend viel zu schön war und auch viel zu lange gedauert hat.

Man kommt die Treppen hoch, nimmt gar zwei oder drei Stufen auf einmal und sieht es bereits auf der Anzeigetafel blinken. Der Zug steht da und ist abfahrbereit. Darunter ist – noch sehr verdächtig statisch – die Information erhältlich, dass der nächste Zug erst in etwa 23 Minuten kommt…

Man hechtet. Man versucht mit jeder Muskelfaser, diese dort noch stehende Bahn zu erreichen. Doch zu spät. Mit einmal Male blinken die Warnlämpchen über den Türen grausam rot auf. Nur ein paar Millisekunden später schließen sich auch schon die Türen.

Jeder, der bereits in dieser Situation war, kann nachvollziehen, wie ärgerlich und frustrierend das ist – erst recht im ja doch so eisigen Winter.

Am vergangenen Donnerstag, man schrieb den 13. Dezember 2007 – das muss mein Glückstag gewesen sein -, kam alles ganz anders und völlig unerwartet: Situation wie oben beschrieben. Und doch mit einem Unterschied. Die Warnlämchen leuchteten zwar, und die Türen schlossen sich, doch nachdem ich dem Zugführer mit einer völlig frustrierten Armbewegung signalisierte, dass ich genau das bin – nämlich frustriert – kam eine Durchsage vom selbigen: „Du schaffst es, Mädchen!“ schrie er durch die Lautsprecher… und öffnete mir den Zug.

Ich hatte 23 Minuten meiner wertvollen Zeit geschenkt bekommen.

Me, my Berlin and… synthetic music

Heute laufe ich nach Hause. Wie gewöhnlich die U-Bahn nehmen? Oh nein, viel zu wenig sieht man, viel zu wenig riecht man – tausende Male schon genutzt. Mein Herz braucht Luft heute. Ich muss ihm mehr Raum für seine Energie geben. Und… den Bus nehmen? Ich zögere kurz, denn oft mache ich das nicht. Nein… Heute laufe ich! Niemand hetzt mich, und zu meiner Freude erwartet mich da draußen ein gespenstisch anmutender, unheimlich nebliger Fastwintertag. Ich bin sicher, dass das Abenteuer dort draußen auf mich wartet.

Wo beginnt er nun, dieser Marsch? Ganz spontan, ganz unkonventionell, ganz unrollend bahnt er sich seinen – zugegeben noch etwas spastischen – Lauf vom emsig umgarnten, pseudoweihnachtsfreudig und kommerziell angestrahlten Ort, dem Potsdamer Platz, an dem sich von früh bis spät Geschäftsleute in Spitzenklasseanzügen und edelweiblichen Kostümchen tummeln, bis nach Hause.

Ich biege in die Leipziger Straße ein, die – wie immer – bis zum Erbrechen mit Autos verstopft ist. Ich bin froh, dass ich nur meine zwei – wenn auch langen – Beine und keine Räder habe, die ich durch das hupende Gekröse schleusen muss. Oh. Und ich war schlau und habe mir Musik in die Ohren geklemmt – synthetische Musik. Ich grinse, und ich laufe los.

Ich laufe geradeaus die Leipziger entlang, doch irgendwann nehme ich einen Umweg über die Wilhelmstraße – vorbei am U-Bahnhof Mohrenstraße. Dort habe ich einmal in einem alten und gebrechlichen Auto gesessen, vertieft in einen Moment, der einer der schönsten in meinem Leben war. Dort befindet sich auch ein Kaisers – in dem habe ich anschließend voller Freude eingekauft. Heute gehe ich nicht hinein. Ein bisschen Nostalgie, und doch: satt erfüllte Sehnsucht. Meine orangefarbene Tasche taschiert meinen Hintern, ein bunter Schal kitzelt mein Kinn.

Als ich die Friedrichstraße erreiche, biege ich wieder rechts ab und befinde mich, nachdem ich den Bahnhof Stadtmitte erreicht habe, wieder auf der Leipziger Straße. Nach beinahe neun Jahren Berlin kenne ich mich mehr als gut aus in dieser niemals schlafenden, tosenden, wütenden, atemberaubenden Metropole. Ich liebe ihren Zorn. Hier möchte ich sein. Das wird mir mehr als bewusst in diesem Moment.

Ich habe – das ist nun viele zehn Minuten her – inzwischen den U-Bahnhof Spittelmarkt erreicht. Selbst er erinnert mich an kurze, doch intensive, kleine Begebenheiten. Die Leipziger Straße wird hier zur Gertraudenstraße. Irgendwann, ich habe inwischen die Alexanderstraße mir zur Linken, die imposante Karl-Marx-Allee und die Mollstraße überquert, erreiche ich die Otto-Braun-Straße und laufe vorbei an (n)ostalgischen Plattenbauten. Hier glitzert, wohin das Auge blickt, konservativer Weihnachtsschmuck in den alten Fenstern. Ich liebe sie in diesem Moment.

Ich muss lächeln und drehe die Musik lauter. Ich denke an Rügen, an die kleinen ungemütlichen und so verloren wirkenden Plattenbauten, die man sieht, wenn man von Stralsund in Richtung Ostseebad Sellin fährt. Ich denke an ein kleines Mädchen. Sie ist neun Jahre alt. Ein Onkel von „drüben“ ist zu Besuch. Gemeinsam macht man eine Fahrt nach Kap Arkona. Es ist windig dort, nein, stürmisch. Das Mädchen ist blass und mager, sie schaut ihren Onkel vertrauensvoll an. Er nimmt sie in die Arme und drückt sie fest an sich. Sie ist glücklich.

Covenant. VNV Nation. Daft Punk und Pink Floyd. Ich drehe die Musik lauter und erreiche irgendwann die Straße, in der ich lebe: die Greifswalder Straße im Prenzlauer Berg. Jetzt bin ich bald da. Mein Kiez. Noch immer die synthetische Musik im Ohr, wippenden Schritts, im Takt der Musik mal ein Bein nach vorn werfend – und mich fast wie eine kleine Diva fühlend -, lächelnd, den Kopf nach rechts und links bewegend, das Haar verweht im winterlichen Wind.

Allein mir selbst – inmitten flippiger Mädchen mit langen, dicken, buntgestrickten Schals und coolen Typen mit unkonventionellen Ripcaps. In diesem Moment bin ich glücklich – bis über beide Ohren. Ich bin jung.

Übertrieben übertriebene Höflichkeit…

… konnte ich heute Morgen beim Tramfahren erleben. Dort, wo ich einstieg, wollte jemand aussteigen – das kommt vor. Jemand mit einer sperrigen Reisetasche stand im Türbereich und wollte sich – so schien es – seinen Weg nach draußen bahnen. Es hätte ein Leichtes für ihn sein können, seine Füße zu bewegen und sie die Stufen hinabgleiten zu lassen, doch nein, so tat er nicht.

Der Betaschte ließ zunächst einmal alle – an sich vorbei – passieren, die ebenfalls aussteigen wollten. Dabei konnte ich, die ich mich noch immer vor und leider noch nicht in der Bahn befand, ein heilloses Durcheinander beobachten. Als der junge Mann dann selbst auf den Bahnsteig treten wollte, überlegte er es sich urplötzlich anders und ging wieder zurück in die Bahn, wobei er mit seiner Tasche wohl ein halbes Dutzend Leute taschierte. Mahnende Blicke von allen Seiten erntete er – selbst ich konnte nicht an mich halten!, – ließ er sich doch erst soviel Zeit bei seinem stetigen „Bitte nach Ihnen“! Eine Weile lang habe ich ihn beobachtet, weil ich doch so unbedingt ergründen wollte, was den uneilig Reisenden dazu bewog, derartig zu handeln.

Ein paar Haltestellen weiter – vielleicht drei oder vier – ereignete sich dasselbe, doch diesmal stieg er aus. Ich blickte ihm hinterher. Auf der Suche nach einer freien Gehnische in seinem Weg, den zu bahnen ihm die ganze Zeit doch so schwer fiel – er wollte um keinen Preis irgendjemanden behindern! -, stolperte er beinahe über seine eigenen Füße und entschuldigte sich dabei unzählige Male. Mein Herz schlug wie wild vor Aufregung, und es brauchte ein paar weitere Stationen, bis ich mich erholt hatte.

Vor dem Essen wird nicht geschnuckt!

Als morgens unser Großraumbüro betrete, stehen dort Teller mit bunten Naschereien – Süßigkeiten, Knabberzeug und Mandarinen – zur allgemeinredaktionellen Schlemmerei bereit.

Heute ist Nikolaus, da „kann man schon mal naschen“. Doch am Morgen? Am Vormittag?
Meinem Kollegen am Tisch hinter mir entfährt dann und wann ein sehnsuchtsvolles Seufzen – doch er widersteht bis zum Mittagessen der Versuchung. Denn: „Vor dem Essen wird nicht geschnuckt!“

Schnucken – ein Wort, das ich zuvor nicht (oder zumindest nicht bewusst) gehört hatte und das wohl – so klärt mich besagter Kollege auf – aus dem Rheinischen stammt und soviel wie naschen bedeutet.

So weit, so gut, doch unweigerlich muss ich bei diesem Verb und der gelieferten Definition an die liebevolle Koseform Schnucki denken. So nennt man doch für gewöhnlich Menschen, die man mag. Und doch habe ich zuvor nie den Sinn dieses Wortes hinfragt. Da liegt für mich die Annahme nahe, dass schnucken und Schnucki irgendetwas miteinander zu tun haben müssen.

Und dann ist da noch diese kleine und besonders putzige Schafrasse, die vor allem in nordischen Gefilden über die Wiesen springt: die Heidschnucke. Sehr schnuckelig! Sehr beschaulich ist es vor allem, wenn eine dieser schnuckeligen Heidschnucken auf der Wiese schnuckt.

Bei all dem Geschnucke habe ich Appetit bekommen und gehe jetzt … essen.

Pola en route

Einmal die weite Welt umrunden oder doch zumindest einen großen Teil davon kennenlernen – eine atemberaubend schöne Vorstellung für viele Menschen, ob alt oder jung. Auch für mich. So unerreichbar fern erscheint so manchem die vage Idee vom „Einfach los!“, und doch habe ich hautnah miterlebt, wie sie in Windeseile in die Tat umgesetzt werden konnte: Meine Cousine Anja erfüllt sich zur Zeit einen langersehnten Traum und reist um den Globus.

Gestartet ist sie im April 2007 in Berlin Kreuzberg. Hier hat sie vorher gelebt. Nachdem sie sich – Deutschland immer etwa acht Stunden voraus – ein paar Wochen in Sydney aufgehalten hatte, ging es für sie im Mai zunächst immer weiter durch Australien nach Melbourne und im Juni unter anderem durch das Outback nach Alice Springs und Darwin. Einen Monat später schrieb sie den Daheimgebliebenen bereits aus Indonesien, erlebte Bali, Singapur und Sulawesi. Hier hielt sie sich eine ganze Weile auf. Ihre nächsten Reisedestinationen: Kei Islands (Maluku) und Papua.

Reisehungrige werden sich auf Anjas Reiseblog Pola en route gern und bisweilen begeistert durch die zahlreichen Links klicken und sie auf ihren verschiedenen Stationen begleiten. Meine blonde und leicht verrückte Cousine zeigt unter anderem bezaubernde und beeindruckende Fotos von Städten, Dörfern, Landschaften, Menschen und Momenten und berichtet detailgenau, was sie erlebt und wen sie in den verschiedenen Ländern und Regionen so alles getroffen und wen sie bereits näher kennengelernt hat. Dabei gibt sie den Lesern das Gefühl, alles hautnah mitzuerleben und an den Begegnungen – ob mit Mensch, Tier oder Landschaft – zumindest mental teilzunehmen.

So kann man beispielsweise erleben – und das sieht ihr wieder einmal ähnlich! – wie sie dreckverschmiert auf einer Farm arbeitet, mit Schiff, Fähre und Segelboot die Meere erkundet, sich – allein oder gemeinsam mit anderen Reisewütigen oder Einheimischen – durch den dichtesten Urwald kämpft, auf Berge in luftiger Höhe kraxelt oder mit verrosteten Schrottkarren durch vertrocknetes Land und Wüstenlandschaften saust. Kein Abenteuer ist ihr dabei zu gewagt, kein Fluss zu tief und kein Weg zu weit. Immer mit im Reisegepäck: eine gehörige Portion Schalk und Humor. Pola en route – das kommt richtig gut.

Was man auf den ersten Blick erkennen kann, und dabei ist es egal, welchen Beitrag man von ihr liest und auf welchem Bild man sie wiedererkennt: Meine Cousine vermisst Deutschland wohl nicht sehr. Wie lange sie noch unterwegs sein wird und ob sie jemals wiederkehren wird, weiß wahrscheinlich nicht einmal sie selbst.

Bleibt zu wünschen, dass Anja noch viele spannende und abenteuerliche Dinge erleben und hoffentlich weiter darüber berichten wird. Ich für meinen Teil versinke, jedes Mal, wenn ich in ihrem Reisetagebuch stöbere, in meinem eigenen Fernweh und schmachte der Welt ins Gesicht… Doch wer weiß, vielleicht mache ich mich eines Tages selbst auf ins ungewisse Abenteuer, denn nicht nur der gleiche Name, sondern auch unsere gemeinsame Leidenschaft – das Reisen – verbindet uns Cousinen. Und das, obwohl uns – dafür jedoch fast auf den Tag genau – zehn Jahre und einige tausend Kilometer trennen.

Mein Leben mit Söhnen