Die Zeit empfinden oder: das Zeitempfinden

Unterwegs in Friedrichshain. Es ist kurz vor 19.00 Uhr. Ich laufe vorbildlich auf dem rechten Bürgersteig, und mir kommt eine Kleinfamilie entgegen. Die augenscheinliche Mutter hält die kleine Hand eines etwa dreijährigen Mädchens fest umklammert. Der Vater auf der anderen Seite hat seinen Arm lässig um die Frau gelegt. In der anderen Hand trägt er eine dunkelbraune Lederjacke. Ich genieße den Anblick, denn die drei sehen zufrieden aus inmitten der nach Hause flüchtenden Leute, von denen sie mal links und mal rechts überholt werden.

Noch sind sie etwa fünfzehn Meter von mir entfernt, doch das laute kindliche Glucksen und Kichern ist nicht zu überhören. Die blonden Zöpfchen der Kleinen wippen bei jedem Hüpfer auf und nieder. Als sie in Reichweite sind, fragt der Fratz seine Eltern lautstark, wie spät es denn jetzt sei. Sie wird doch wohl nicht schon die Uhrzeiten kennen? Ausgeschlossen. Die Mama schaut den Papa grinsend an und teilt dem Kind mit, dass es gleich genau sieben Uhr sei.
„Hihi… so spät…“, erwidert die Kleine nur, und ihr Gesicht bekommt plötzlich einen nachdenklichen Ausdruck… Diese Antwort und ihre Mimik versetzen mich in Erstaunen und bringen mich gleichermaßen zum Nachdenken. Was wohl in ihrem Köpfchen vor sich gehen mag? Wie abstrakt muss dem Mädchen wohl diese Zahl erscheinen?

Ich selbst erinnere mich nur wage an mein Zeitempfinden damals, das doch so anders war als das der Erwachsen. Wie lang ist mir damals ein Tag erschienen, vor allem, wenn es ein langweiliger war – und wie lang eine Woche. Ein Monat, vielleicht sogar ein Jahr? Unvorstellbar lang…

Fragt man ein kleines Kind nach seinem Alter, wird es stolz drei oder vier, manchmal sogar auch schon fünf Finger in die Höhe recken. Es wird noch lange dauern und das Kind ganz ungeduldig lauern, bis es denn endlich einen Finger mehr an seiner kleinen Hand zeigen kann. Nach dem Erscheinen der ersten Zahnlücke wird es dann irgendwann verschwinden, das Fingerzeigen. Dann ist man schon groß. Doch bis dahin ist es wohl noch sehr lang… Ich schmunzele vor mich hin.

Die Familie ist jetzt zwei oder drei Meter hinter mir. Es ist jetzt vielleicht eine Minute nach sieben. Ein Kichern. „Und jetzt, Mama?“, fragt das Mädchen. „Wie spät ist es jetzt?“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert