Archiv der Kategorie: Begebenheiten

Spring, kleiner dicker Junge!

Jetzt steht er da oben, der kleine dicke Junge – und traut sich nicht. Wahrscheinlich fragt er sich gerade, wie er auf den Zehner dieses Sprungturms geraten ist. Seine Freunde sind bereits gesprungen. Der Gruppenzwang. Und nun ist er an der Reihe, steht da ganz allein. Die Freunde im Becken? Feixen, plantschen, freuen sich des Sommerlebens. Und warten auf ihren Freund. Und darauf, dass er endlich springt.

Ich kann seine Beklemmung  – und seine Hemmung – spüren. Er tut mir leid.
„Nun los! Mach doch mal!“, ruft da einer seiner Freunde. Ein paar Leute im Schwimmbecken starren jetzt zu ihm hoch, Kinder und Teenager versammeln sich um das Becken.
„Guck mal, der traut sich nicht!“
„Was macht der denn da oben?“
„Warum spingt er denn nicht?“
„Der hat Schiss. Der Arme!“ Und so weiter.

Zögerlich wagt sich der dicke Junge zum Sprungbrett vor. Als es leicht zu schwingen beginnt, zieht sich der Kleine wieder zurück. Die Jugend unten pfeift. Feigling. Die Mädchen kichern, lachen ihn aus. Er kaut an seinen Fingern herum. Am liebsten möchte er wieder runterklettern. Doch das geht auch nicht. „Das hier ist nicht der Ausgang! Du musst schon springen“, sagt jemand, der gerade die Leiter erklimmt.

Die Pfiffe und Buh-Rufe verstärken sich.
Der Junge versucht es noch einmal. Er nimmt seinen ganzen Mut zusammen und bewegt sich wieder auf das Brett zu. Jetzt steht er sogar an der Spitze – mutig, wie ich finde. Ich glaube, ich würde auch meine Zeit brauchen. Und die nimmt er sich auch. Weitere fünf Minuten vergehen. Das Becken ist inzwischen von jungen Menschen umstellt. Es sind jetzt wohl so um die fünzig Gafflustige, die lachen, pfeifen und klatschen. Ein einheitliches Motivations-Klatschen setzt ein. Los jetzt. Spring. Jetzt! Du schaffst das!

Ich sehe sogar von unten, dass sich sein Brustkorb hebt und senkt. Furcht hat er. Aber er sammelt sich.
Recht besonnen steht er jetzt da. Oh ja, er wird gleich springen. Das sehe ich ihm an. Dann nimmt er Anlauf, hält sich die Nase zu und – springt. Er schreit nicht, er fällt einfach. Dann klatscht sein Körper ins Wasser.

Wo ist er? Nicht zu sehen. Nach etwa einer halben Minute taucht er mit einem Grinsen auf. Die Menge atmet auf. Schlawiner!
Du hast es geschafft!
Hunderte Hände klatschen – wie nach einer Theatervorstellung.
Ich grinse. „So kann man auch auf sich aufmerksam machen!“, sage ich zu meinem Liebsten.

Badende Jugendliche auf Mallorca (Dezember 2009)

Die Pacemakerin

Endlich. Es ist Frühling geworden. So richtig, meine ich. Es riecht ja schon eine Weile danach. Doch die Temperaturen, die wollten sich noch nicht anpassen. Es ist herrlich warm heute, und ich freue mich auf einen ausgedehnten Lauf. Basecap auf, kurze Hose an, T-Shirt – und los. Ich trete aus der Haustür, und die Spree lacht mir entgegen. Besser kann das doch gar nicht anfangen.

Doch dann: Als ich den Schlosspark Charlottenburg erreiche, möchte ich am liebsten wieder umkehren: Es ist zum Erbrechen voll. Eltern mit ihren Kinderwagen, Pärchen, Freunde, Radfahrer, Jogger und Walker. Und dann auch noch die mit diesen blöden Stöckern. Was soll’s. Eigentlich war das ja klar. Und uneigentlich habe ich einfach nur nicht daran gedacht. Ich beschließe, das Beste daraus zu machen. Entspannt laufe ich los – so weit das denn geht: Beinahe stolpere ich über einen kleinen Jungen, der meinen Weg kreuzt. An der Spree entlang. Wunderschön. Ich sehe spielende Kinder, Picknicks, planschende Enten. Wohin ich meine Nase auch wende: Es riecht nach Bratwurst und Grillfleisch, Toast und Maiskolben mit Butter. Wunderbar. Ich sauge den Duft tief ein. Ich habe Hunger. Nein! Jetzt nicht. Es wird gelaufen, dann gibt es Steak, Brechbohnen und Potatoe Wedges. Später.

Irgendwann nach Kilometer drei läuft sie an mir vorbei, überholt mich einfach – ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen: Sie ist groß, superschlank, hat ihr blondes Haar zu einem Dutt gebunden. Ein wahnsinniger kleiner Knackhintern wippt im Takt ihrer Laufschritte. Oh oh. Ich ahne es: Heute habe ich wieder einmal eine Pacemakerin – jemanden, an dessen Laufgeschwindigkeit ich mich orientieren werde. Ich werde nicht schneller und auch nicht langsamer sein als sie. Naja, vielleicht ein bisschen schneller. Eigentlich wollte ich doch ganz entspannt laufen. Und uneigentlich? Dreht sie sich irgendwann nach mir um und schaut, wie weit ich zurückliege. Ich halte konsequent Schritt. Sie ist eine gute Pacemakerin. Doch nach ein paar Sekunden dreht sie sich ein zweites Mal und noch etwas später ein drittes Mal um. Och nö. Na gut Mädchen, du hast es nicht anders gewollt.

Mein Ehrgeiz ist geweckt. Es hilft alles nichts: Ich halte ein paar Meter bewusst mein derzeitiges Tempo, um mich zu regenerieren und voll auf meinen Körper zu konzentrieren. Kräfte sammeln für den Langzeitsprint, der gleich folgen wird. Wäre doch gelacht, wenn ich das nicht hinbekäme. Ich ziehe an ihr vorbei. Nicht zu schnell, aber mit demonstrativer Kraft. Ich halte dieses Tempo drei Kilometer, das ist wirklich gut. Ich bin stolz auf mich. Mein Atem geht weitaus schneller, ich spüre meine Muskeln deutlicher als sonst. Dann und wann drehe ich mich nach ihr um. Sie liegt zurück. Was sonst. Ich atme auf – und verlangsame mein Tempo. Gleich beginnt die dritte und letzte Runde. Prima. Das Steak ruft.

Kurz vor Schluss: Ich glaube, ich sehe nicht richtig. Aus einer Weggabelung prescht die Blonde. Wo kommt die denn her?! Jetzt hängt sie wieder vor mir. Na warte, du Schnepfe, dich kriege ich! Nach ein paar mühseligen Minuten bin ich auf gleicher Höhe mit ihr, zuletzt sogar einen winzigen Schritt vor ihr.
Sie stoppt abrupt, schaut auf die Uhr. Ich drehe mich nach ihr um. Sie grinst mich an.
„Danke. Du warst eine gute Pacemakerin für mich heute!“, ruft sie mir nach.
Und nimmt einen der Ausgänge. Unentschieden.

Ganz vergessen

Samstagabend, 21 Uhr. Im Spätkaufladen am Helmholtz-Platz. Entnervt schaue ich auf die riesige Schlange vor mir an der Kasse. Ich habe doch nur eine Flasche Bier. Die möchte ich gleich auf einer Bank in der Sonne genießen. Doch es geht nur schleppend vorwärts. Immerhin.

Vor mir an der Reihe ist jetzt ein Mann um die 35, der offensichtlich für eine große Party einkauft: Kartoffelchips, Erdnüsse, Nachos und Avocados – wahrscheinlich macht er gleich eine Guacamole -, Bier, Wein und andere Leckereien liegen da verlockend auf dem Laufband.

Während des Scanprozesses piept sein Handy.
„Hallo? Ja! Ach so. Nein, Du störst nicht …“ Er tritt beiseite und telefoniert, während der Verkäufer die Waren scannt. Irgendwann ist er fertig, während der Einkäufer noch immer am Handy spricht.
Die Leute schauen pikiert. Einige sind ungeduldig.
„Wann jeht’n dit hier nu weiter?“
Der Verkäufer aber wandert seelenruhig mit den Augen im Laden umher. Keine Spur von Missmut. Er hat ja Zeit.

Hastig packt der Telefonierer jetzt seine Sachen in die  Einkaufskiste.
„Schönen Abend noch!“, sagt er – ziemlich in Eile – und möchte den Verkaufsraum verlassen.
„Ja, einen schönen Abend wünsche ich Ihnen auch. Aber meinen Sie nicht, Sie hätten da etwas vergessen?“
Der Verkäufer zieht die Augenbrauen nach oben und schaut seinen (vor-)eiligen Kunden verwundert an. Dieser wiederum runzelt die Augenbrauen, reißt plötzlich erschrocken die Augen auf.
„Oh Gott! Das tut mir jetzt aber leid. Hab ich jetzt ganz vergessen!“
Das sieht man. Er öffnet sein Portemonnaie und zahlt.

Rohe Ostern

Ostermontag. Ausgedehntes Schlendern entlang der Hafenpromenade in Rostock-Warnemünde. Das Kreischen der Möwen begleitet das Tuckern der vielen hin- und herpendelnden Fischkutter. Wie romantisch. Ein paar Sightseeing-Boote sind auch unterwegs – als da wären zum Beispiel „Min Herzing“ und „Käppt’n Brass“.

Der weite Strand mit seinem feinen, trockenen Sand lädt unsere Füße  zum Versinken ein.  Ich ziehe die Socken aus und tauche ein in die Untiefen des hellen Kühls. Ich habe einmal gehört, dass hier an diesem Strand die Idee für den Strandkorb geboren sein soll. Eine alte, kranke Frau wollte sich vor dem rauhen Wind schützen. Schön, wieder hier zu sein – wenn auch nur für ein paar Stunden.

Ein Fischbrötchen muss her. Unbedingt. Schnell. Wir steuern auf eine der unzähligen Buden zu, die die Promenade säumen. Ich zücke mein Portemonnaie und werfe einen schnellen Blick hinein. Ja, noch genug da. Puh. Sehr cool. Denn der Hunger lässt grüßen.

Mir vergeht ein bisschen der Appetit: Die Verkäuferin schaut grantig drein. Welche Laus ihr wohl über die Leber gelaufen sein mag? Ich seufze tief und zwinge mich zu einem herzlichen Lächeln. Es ist ja nur einmal Ostern im Jahr. Ich bestelle zwei Bismarck-Brötchen mit Zwiebelringen. Stolz nehme ich sie entgegen und lächele erneut. Noch immer keine Gefühlsregung im Gesicht der Fischfrau. Die nächste Stufe meines Freundlichkeitsgebarens muss her. „Frohe Ostern wünsche ich Ihnen noch!“, rufe ich ihr etwas zu laut zu, obwohl sie höchstens drei Meter von mir entfernt steht. Die Verkäuferin schaut mich an als wäre ich ein sprechender Fisch – bestimmt eine halbe Minute lang.
„Sie meinen wohl: Rohe Ostern.“
Natürlich wundere ich mich. „Hä? Wieso?“
„Na, es ist jetzt 16 Uhr durch – und Sie sind die erste Person, die mir heute frohe Ostern wünscht! Die Menschheit verroht! Rohe Ostern sind das …“
Und dann lächelt sie.

Der Süße kriegt das größere der beiden Fischbrötchen – zumindest sage ich ihm das. Es wird ihm schon nicht auffallen: Männer haben ein anderes Empfinden für Größe. Ich schmunzele vor mich hin. Fast wäre mir ein Kichern entglitten. Das lautlose, aber dafür hämische Grinsen kann ich nicht verbergen. Der Süße schaut mich schräg von der Seite an – und hat mich sofort durchschaut. Natürlich lässt er mir mein Brötchen.  Es ist ja nur einmal Ostern im Jahr.

Bildung und Hochstühle

Unterwegs im Bus. Gute Musik in den Ohren. Hardenbergstraße Richtung Ernst-Reuter-Platz. Gleich bin ich da, wo ich sein möchte. Mir gegenüber sitzen zwei sich unterhaltende Frauen mittleren Alters. Soweit ganz harmlos. Doch als die eine immer häufiger die Stirn runzelt und die andere immer stärker ihren Kopf schüttelt, möchte ich wissen, um was es geht. Unauffällig die starken Töne leiser gedreht. Na, besser ganz aus, damit ich nichts verpasse.

„Nein, das finde ich nicht!“, sagt jetzt die mit den leicht ergrauten Haaren im Schläfenbereich. „Viel zu  lasch, viel zu unkonsequent die Lehrer hier! Und die Studenten, schauen Sie sich doch die mal an. Ein Lotterleben ist das doch, was die führen. Die lernen doch alle nichts mehr. Was die …“ Die Frau mit der dunkelgrünen Wollmütze zieht die Augenbrauen zusammen und unterbricht vehement.
„Das ist doch jetzt nicht Ihr Ernst. Das können Sie doch jetzt nicht sagen! Meine Tochter absolviert auch ein Hochstuhlstudium!“
Und eigentlich möchte sie weiterreden, sich auslassen über das, was ihr Kind in der Universität alles leisten muss und wie stolz sie darauf ist.

Doch dazu kommt es nicht mehr, denn sie sieht mich grinsen.  Ungläubig schaut sie erst mich und dann ihre Sitznachbarin an. Diese grinst ebenfalls – dann prustet sie los. „HochSTUHLstudium“ sage ich, zucke lächelnd mit den Achseln und sehe zu, dass ich zum Ausgang komme.