Archiv der Kategorie: Begebenheiten

Sei kein Frosch!

Am Morgen belausche ich in der U-Bahn das Gespräch zweier Jungs um die zwölf Jahre.
„Wollen wir nach der Schule noch zu Lucas?“
„Hm … Geht nicht, ich muss heim, Hausaufgaben machen.“
„Hä? Die kannst Du doch später noch machen! Lass uns ’n bisschen zusammen zocken!“
„Beim letzten Mal hast Du auch gesagt, wir kommen rechtzeitig nach Hause. Und dann war ich viel zu spät dran, und meine Mutter war dann echt sauer …“
Der andere Junge grinst. „Mensch, sei kein Frosch! Ruf doch Deine Mutter an und frag sie, Du Feigling.“
Der Ängstliche zückt sein Handy. Sein Gesichtsausdruck verrät, dass es ihm nicht besonders gut geht.

Was haben Frösche eigentlich mit „Feigheit“ zu tun?
Die Erklärung ist denkbar einfach: Als Fluchttiere sind Frösche sehr schreckhaft. Schon bei der kleinsten Bewegung hüpfen sie davon.

In Storkow haben es Frösche nicht leicht.

Zieh Leine!

Unterwegs in der Bergmannstraße. „Tiefstes Kreuzberg“. Hier tobt das Leben, und immer wieder fasziniert mich das. Vor mir auf dem Bürgersteig steht ein junger Mann um die 30. Der dünne Kerl hält eine rote Rose in der Hand und schaut verzweifelt an dem Haus hoch, vor dem er steht. Er macht mich neugierig. Ich bleibe stehen und schaue ebenfalls an der Häuserfassage hoch.

Mein Blick bleibt an einem rothaarigen Mädchen mit traumhafter Mähne haften, das aus einem der Fenster schaut. Sie macht ein missmutiges Gesicht. Das steht ihr gar nicht. Oh oh, ich ahne es: Diese Situation hier bedeutet Stress. Langsam und unauffällig bewege ich mich weiter.

„Mann, zieh endlich Leine! Ich will nichts von Dir!“ Sie schreit den jungen Mann an und knallt das Fenster zu. Ich fahre zusammen. Wie gemein. Mitleidig schaue ich ihn an. Er schaut zurück. „Da soll mir mal jemand sagen, dass ich nicht aufgeben soll. Ey, mir reichts!“ Er geht, die Schultern hängen. Ich kann ihn gut verstehen.

Mit der Redewendung Zieh Leine! fordern wir jemanden unsanft auf, endlich das Weite zu suchen. Höchstwahrscheinlich stammt sie aus der Binnenschifffahrt: Damals zogen noch Menschen und Pferde Kähne an dicken Leinen stromaufwärts. In ärmeren Gegenden wird noch heute „getreidelt“.

Auch ordentlich PS: Pferderennen in Hoppegarten

Hinters Licht geführt

Unterwegs im Kaufhaus. Zwei Mädchen um die 16 probieren Klamotten an. Eine Blonde und eine Brünette. Sehen ganz schnieke aus, die beiden. Die Blonde hält ein tolles, sattgrünes Oberteil in den Händen.

“Ey, meinsdu das steht mir?” Sie hält sich das Kleidungsstück demonstrativ an den Körper.
Die Brünette runzelt die Augenbrauen, schürzt die Lippen, schaut skeptisch.
“Näh, findisch gar nisch. Nääääh … sieht voll komisch aus.” Finde ich gar nicht, ich finde, das Teil würde der Blonden bestimmt gut stehen!
“Was? Wieso?! Was isn faul dran?” Die Blonde kann es einfach nicht glauben.
“Voll hässlisch!”
“Was: ich oder das Shirt, ey?”
“Beide.” Die Brünette lacht aus voller Kehle.
“Du bist voll bescheuert, ey!”
“Ey wartma, komma kurz mit.” Die Augen der Brünetten blitzen auf. Ihr sitzt der Schalk im Nacken.
“Wieso das denn jetz?” Die Blonde versteht die Welt nicht mehr. Warum soll sie jetzt woanders hingehen? Ausgerechnet jetzt, wo die Freundin sie ach so mies behandelt?
“Komm dochma mit, ey. Zeigisch Dir!” Die Brünette zerrt die Blonde an der Hand in eine Ecke, hinter eine Stehlampe. Dann lässt sie ihre Hand los.
“Ey, willst Du mich verarschen!?” Die Blonde verliert langsam die Geduld, während die andere dasteht und ein fettes Grinsen auf den Lippen hat.
“Nee, ich wollt Dich nur hinters Licht führn, ey!” Die Blonde schaut ungläubig. Es dauert etliche Momente, bis sie begriffen hat. Dann gackern beide los.

Jemanden hinters Licht führen. Ursprünglich bedeutete diese Wendung, dass jemand dorthin geführt wurde, wo das Licht einer Lampe abgeschirmt war. Hier konnte man also nicht sehr gut sehen, was vor sich ging …

Ich muss mir selbst eingestehen, auch ich finde die AKtion der Brünette sehr komisch – und ziemlich intelligent. Ich gackere mit.


Schaufensterpuppe in Friedrichshain

Jacke – verzweifelt gesucht

Dreh in einem Altenpflegeheim. Unser Filmtrio porträtiert eine Ergotherapeutin. Dann eine Altenpflegerin. Wir dürfen auch einem hochmotivierten und kreativen Koch in seine Töpfe luken und ihm – wenigstens ein paar – seiner „ganz persönlichen Kochgeheimnisse“ entlocken. Es duftet wirklich wunderbar. Champignons, frische Kräuter, jede Menge Sahne … Sünde! Und es ist elf Uhr durch. Mein Magen beginnt zu knurren. Echt eine fiese Sache, so ein Dreh auf nüchternen Magen.

Hochkonzentriertes Arbeiten. Schuss, Gegenschuss. Totale, Close-Up, Schwenk. Und so weiter. Die Stunden vergehen. Es ist Nachmittag, und wir haben alles im Kasten. Gut gelaunt – und hungrig – gehen wir in Richtung „Produktionsauto“. Alles schön in Ruhe zusammenpacken und uns dann ein gepflegtes Mittagsmahl genehmigen. Das haben wir uns auch verdient. Pizza. Oder Nudeln. Oder Steak oder so.

„Meine Jacke … !“ Unser Kollege schaut uns an. So, wie man eben schaut, wenn die Erkenntnis kommt, dass etwas fehlt. Es fehlt: eine dunkelblaue Adidas-Jacke. Mit drei weißen Streifen. Na klar. Wir suchen sie überall – und zu dritt. Nichts und nirgendwo. Vom Erdboden verschwunden, so scheint es. Eine regelrechte Jagd quer durch die sechs Etagen des Heims. Wir fragen alle, die uns in die Quere kommen über den Weg laufen: Pfleger, Reinigungskräfte, Senioren. Doch noch einmal auf die Sechs? Ja, einen letzten Versuch starten wir noch. Ansonsten ist sie eben weg, die Jacke.

In der sechsten Etage befindet sich die Wohngemeinschaft der Demenzkranken. Blick nach links, Blick nach rechts. Nein, auf der Herrentoilette ist sie auch nicht. Sicherheitshalber schaue ich sogar in einen Papierkorb. Man kann ja nie wissen. Sie ist wohl wirklich weg.

Wir laufen an einem sportlich gekleideten Herrn vorbei. Ich finde ihn auf Anhieb sympathisch. Und so adrett! Warum genau? Ich drehe mich noch einmal nach ihm um. Er sieht wirklich gut und um einiges jünger aus in dieser Jacke – ich schaue genauer hin – dunkelblauen Adidas-Jacke! Ich bleibe stehen, mache – total unauffällig – „ksssst!“ zu den Jungs. Wir starren mit offenem Mund – und brechen in Gelächter aus.

Die Situation klärt sich rasch. „Prof. Dr. Schmidt!“ Der Pfleger geht auf seinen Patienten zu. „Ist das Ihre Jacke?“ Er blickt grinsend zu uns rüber. Wir nicken. Der Pfleger lacht; der Senior grinst schelmisch.

Ein altes Sprichwort besagt: Wem die Jacke passt, der mag sie anziehen.
Und genau das hat der alte Herr wohl auch gedacht.

Du hast doch nicht alle Tassen im Schrank!

Er ist einfach mein Lieblingsitaliener. Weil er dieses original italienische, gehetzte Ambiente versprüht – und das mitten in Berlin. Wegen der karierten Tischdecken. Auch wegen des günstigen, aber unglaublich leckeren Hausweins. Vor allem wegen der Grantigkeit der italienischen Kellner. Und nicht zuletzt wegen der leckeren Pizza: Il Casolare in Kreuzberg.

Eine bessere Pizza als dort habe ich bisher nur im Sorrent in Süditalien gegessen. Das war 2002. Und dann wieder 2003. Pizza so groß wie ein kleines Wagenrad, belegt mit allerlei frischen Köstlichkeiten. Büffelmozzarella. Basilikum. Reife, saftige Tomaten und prosciutto crudo. Den Duft und das temperamentvolle Gerede in der Restaurantküche in den Bergen – unbeschreiblich. Eine riesige Eistruhe in der Ecke des ristorante. Kinder aus Großfamilien, die um Tische laufen. Ich versinke in Erinnungen und hole mir den Duft der Pinien zurück in die Nase …

„Mann! Du hast doch echt nicht alle Tassen im Schrank!“ Eine laute weibliche Stimme hinter mir.
Meint sie etwa mich? Ich drehe mich um. Sie sitzt am Tisch hinter mir. Der arme junge Kerl neben ihr ist knallrot im Gesicht.
„Sorry, ich hatte eben noch so lange zu tun …“
„Drei Stunden lang!“ Sie lacht  vollkehlig.

Nicht alle Tassen im Schrank haben. Wo kommt denn dieser Spruch nun schon wieder her? Ist er entstanden, weil jemand zu dumm war, Tassen in einen Schrank zu stellen ohne sie zu zerdeppern? Oder weil man sie alle verschusselt hat?
Nicht alle Tassen im Schrank.
Die Redewendung – über die jeder weiß, was sie bedeutet, aber kaum jemand, wo sie herkommt – stammt angeblich aus dem Jiddischen. Sie leitet sich vom Substantiv toshia (= Verstand) ab. Ähnliche Wendung: eine trübe Tasse sein.

„Zu tun!“ Sie keift. „Drei Stunden lang ohne Bescheid zu sagen? Du kannst mich mal. Du hast echt nicht alle Tassen im Schrank!“
Sie steht auf, rennt an meinem Tisch vorbei – und verlässt das Lokal. Ein Windhauch auf meinen Armen. Er trabt hinterher.

Camerota/Kampanien (Süditalien, 2003)