„Mieses Karma“

… lautet der Titel des Buches von Schriftsteller David Safier, das ich kürzlich gelesen habe. Es geht darin um eine Frau, die auf ungewöhnliche Weise für ihr unehrbares Verhalten gegenüber den Mitmenschen bestraft wird.

Besagte Protagonistin ist die arrogante, rücksichtslose und egoistische Fernsehmoderatorin Kim Lange, die nur zu gern ihre Ellbogen einsetzt, wenn es darum geht, beruflich weiterzukommen und ihre Konkurrenten auszustechen.

Die Ehe mit Mann Alex ist unglücklich, die gemeinsame Tochter kommt zu kurz. Es gibt nicht viele Menschen, die Kim gern haben. Doch sie macht weiter, stichelt und mobbt – erfolgreich, wie sich herausstellt: Eines Tages wird sie für den Deutschen Fernsehpreis nominiert und hält ihn dann wenig später auf der Verleihung in ihren Händen (nachdem ihr viel zu enges Kleid reißt und Kim dem breiten Publikum ihren ebenso breiten Hintern präsentiert).

Anschließend findet sie sich mit dem charismatischen Kollegen Daniel in ihrem Hotelbett wieder. Als sie kurz auf die Hotelterrasse geht, wird von den Trümmern einer herabfallenden russischen Raumstation erschlagen. Ihr Leben läuft noch einmal im Zeitraffer vor ihrem inneren Auge ab. Ihren Tod hatte sich Kim anders vorgestellt.

Doch dann wird sie als Insekt wiedergeboren: als Ameise. Buddha erscheint Kim – ebenfalls in Ameisengestalt – und erklärt ihr, dass dies nun die Strafe für ihr menschliches Versagen sei. Genauso plötzlich wie er aufgetaucht ist, verschwindet er auch wieder. Kim muss sich ihrem Schicksal stellen. Und dies erfordert, so lange gutes Karma zu sammeln, bis die oberste Stufe der Wiedergeburt erreicht ist.

Unter der strengen Kommandantin Krttx (Ameisen kennen keine Vokale) begibt sie sich mit einer gewaltigen Ameisenkolonne auf Nahrungssuche – und stößt dabei auf ihr altes Leben: In ihrem Haus findet gerade eine Trauerfeier für Kim statt. Anwesend ist auch ihre ehemalige beste Freundin Nina, die sich an Kims Ehemann und die gemeinsame kleine Tochter heranmacht.

Kim ist sauer und wagt sich in die Nähe des Hauses, dann des Wohnzimmers und schließlich des großen Esstischs, auf dem ein Kuchen steht. Ihren neuen Instinkten folgend, springt sie gegen die Schokoglasur. Verzweifelt versucht sie, Nina dabei nahe zu kommen um sie anzuschreien.

Kims erstes Ameisenleben endet in Ninas Magen, nachdem diese von dem Kuchen probiert.

In ihrem zweiten Ameisenleben begegnet sie Casanova, der bereits seit über 200 Jahren sein derzeitiges Ameisendasein führt. Dieser hat beim Liebesakt mit der Königin eine kesse Lippe riskiert und der Monarchin zu verstehen gegeben, wie wenig überzeugend ihre erotischen Qualitäten seien. Die Ameisenkönigin will Casanova hinrichten lassen. Doch gemeinsam mit Kim gelingt die Flucht…

Kim wird noch so einige Leben als immer verschiedene Individuen führen, und es gelingt ihr – wenn auch mühsam – die Reinkarnationsleiter weiter nach oben zu klettern, ihr altes Leben dabei immer im Blick habend…

Mehr sollte im Grunde denn auch gar nicht verraten werden, denn es lohnt sich, das Buch zu lesen: David Safier gelingt es, das komplexe Thema Spiritualität mit einer gehörigen Portion Humor und Ironie zu verbinden. Bleibt nur zu hoffen, dass diese ungewöhnliche Geschichte eines Tages als Verfilmung wiedergeboren wird.

Fernweh – Weihnachten auf Mallorca

Wo andere Sommerurlaub machen, verbringen mein Liebster und ich in diesem Jahr unsere Weihnachtsfeiertage: auf der größten der Baleareninseln – Mallorca. Morgens joggen wir am Strand oder an Hafenpromenaden entlang, vorbei an Palmen und im Sand herumtollenden Hunden. Auf dem Meer schippern ein paar Segelboote langsam am Horizont entlang … Schön ist es – und viel ruhiger als im Sommer.
Ein paar Spaziergänger, Radfahrer, Jogger und Skater ziehen an uns vorüber, wenn wir nach dem Laufen auf der Terrasse eines Bistros ausgiebig frühstücken: Café con leche, frisch gepresster Orangensaft, Croissants und eine Tageszeitung. Fünfundzwanzig Grad in der Sonne. In der Ferne auf den Gipfeln der Gebirgskette liegt Schnee.

Am Heiligen Abend wohnen wir in Palmas Kathedrale einem deutschen Gottesdienst bei. Auf Mallorca leben schätzungsweise 22.000 Deutsche, und so nimmt es nicht wunder, dass jeder Platz belegt ist. Wir müssen stehen. Der Hall in dieser atemberaubend großen und wunderschönen Kathedrale ist ein Erlebnis, der mir eine Gänsehaut beschert. Wer keinen Sitzplatz bekommen hat, steht dicht gedrängt beieinander, obwohl es hier drinnen eigentlich nicht kalt ist, allenfalls angenehm kühl. Gebannt lauschen wir alle den Worten des Pfarrers, der von Liebe und Wärme spricht. Und genau die kann man hier spüren.
Es ist Weihnachten.

An den Folgetagen sind wir mit dem Mietwagen auf der Insel unterwegs – quer durchs Land. Auf Serpentinstraßen fahren wir nach Sóller an der Norwestküste Mallorcas, besuchen den Torrent de Pareis, einen Sturzbach, der durch eine Schlucht führt. Eingebettet in eine – wie der Name verrät – paradiesische Landschaft, lädt er zum Erforschen der weiteren Umgebung ein, die schroffe Felsen, tosendes Meer und jede Menge frische Brisen bietet.
In der auf einem Hügel gelegenen historischen Altstadt von Alcúdia genießen wir die Nachmittagssonne und  eine der besten heißen Schokoladen, die ich je getrunken habe. Sie ist sehr dickflüssig, fast wie dünner Pudding.
Ein paar Jungen tollen herum, einen Fußball flink von Bein zu Bein manövrierend. Eine Katze umgeht gerade so der Schusslinie und zieht mürrisch maunzend von dannen. Eine Mallorquiín sprechende Dame keift die Bengel zusammen.
Kurz: Aufregende Eindrücke, vielältige Vegetation, tosendes Meer, freundliche Menschen, gemäßigtes subtropisches Klima und nicht zuletzt die wunderschöne Hauptstadt der Insel entfachen in mir den Wunsch, zumindest zeitweise auf dieser Insel zu leben.

Verständnis und Entschuldigung

Es ist kalt da draußen. Richtig kalt. Die Temperaturen sind in der vergangenen Nacht in einigen Teilen des Landes erstmals seit 22 Jahren auf unter minus 25 Grad Celsius gesunken. In einigen Bundesländern ging es sogar auf fast schon arktische minus 30 zu, heißt es. Auch in Berlin hat der Winter Einzug gehalten.

Als ich heute Morgen aus der Haustür trete, weht mir die noch immer eisige Kälte entgegen. Allein der spontane Gedanke an Eisschwimmen in der Ostsee treibt mir eine Gänsehaut auf den Körper. Ich sehe, wie ein Auto auf der Greifswalder Straße auf ein anderes fährt, das aus einer Nebenstraße geschlittert kommt. Die Fahrer steigen aus und reden miteinander. Der eine zuckt die Schultern und sagt irgendetwas. Der andere nickt ergeben und zückt daraufhin sein Handy. Ich wende meinen Blick von den beiden Männern auf die ineinander verschränkten Autos und bin erleichtert, dass ich gleich in der warmen S-Bahn sitzen werde.

Am S-Bahnhof angekommen, eile ich zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe zum Bahnsteig hoch. Ich verpasse die Ringbahn, sie fährt direkt vor meinen Augen davon. Die nächste kommt laut Anzeigentafel erst in zehn Minuten. Ich friere schon jetzt, doch in zehn Minuten werde ich wohl erfroren sein. Ich reibe meine in dicke Handschuhe verpackten Hände aneinander und trete von einem Fuß auf den anderen. Nach wenigen Minuten kommt die Durchsage, dass sich die Bahn um wenige Minuten verspäten werde. „Wir bitten um Ihr Verständnis.“ Ein paar Minuten halte ich jetzt auch noch durch.

Es wird richtig unangenehm. Ich kneife ein Auge zu und schiele mit dem anderen hinab in Richtung Nase. Rot. Nein, doch eher knallrot. Mein Riechorgan ist eiskalt und beginnt zu laufen. Ich schniefe. Immerhin kommt gleich die ersehnte Bahn. Doch die Lautsprecher kennen keine Gnade, eine zweite Ansage folgt: Der Zug verspäte sich erneut um wenige Minuten. „Wir bitten um Ihr Verständnis und um Entschuldigung“, wirft die weibliche Sprecherstimme den Fahrgästen entgegen. UND um Entschuldigung… Was zuviel ist, ist zuviel. Mir entfährt ein erzürntes – und zugegeben etwas prolliges – „Maaaann ey!“. Zahlreiche Augenpaare schauen mich an, ich interpretiere die Blicke einfach als verständnisvoll.

Fünf Minuten später fährt endlich die Bahn ein. Ich glaube meinen Augen nicht zu trauen, als ich sehe, dass sie rappelvoll ist. Der Menschenmasse auf dem Bahnsteig scheint es genauso zu gehen. Jeder versucht, in den Zug zu gelangen, koste es, was es wolle. Ein Gehetze, ein Gedrängle. Ich überlege schon, die nächste zu nehmen, doch mit letzter Kraft gelingt es auch mir, den wohl letzten Platz zu erhaschen. Die Türen schließen sich mahnend und rot blinkend. Die Luft in der Bahn ist alles andere als frisch. Man möchte sofort die Fenster aufreißen. Niemand traut sich zu fragen, denn auch die Stimmung lässt zu wünschen übrig.

„Könnten Sie mal bitte den Stopper betätigen? Die Räder Ihres Kinderwagens knallen permanent gegen meinen Fuß!“, schnauzt eine Frau mittleren Alters verständnislos eine junge Mutter mit Kleinkind an. Diese bewahrt Ruhe und befolgt den Wunsch der anderen augenverdrehend. Doch bereits eine Station später brüllt die Gepeinigte vollkehlig: „Jetzt reicht’s! Das ist das fünfte Mal, dass mir Ihr Wagen gegen den Fuß fährt!“. Jetzt platzt auch der Mutter der Kragen: „Sie keifen doch hier einfach nur aus Frust rum!“. Zwei Frauen streiten in einem beängstigend vollen und stickigen S-Bahn-Wagen.

Ich bin froh, als ich mein Ziel erreiche und aussteigen kann. Auf dem letzten Wegstück denke ich darüber nach, wie schön es jetzt wäre, durch einen verschneiten Park zu laufen und eine Schneeballschlacht zu machen oder besser noch: Urlaub in Costa Rica. Manchmal ist eben selbst mir Berlin ein klein wenig zuviel.

Weil Du heut Geburtstag hast…

In Gedanken bin ich heute ganz bei Dir. Du hast Geburtstag. Dieses Jahr ist es bereits der 93. Ein stolzes Alter, das Du erreicht hättest, würdest Du noch leben. Du hast immer einen Tag nach mir Deinen Ehrentag gefeiert. Unsere Geburtstage standen immer in Verbindung: Erst Kuchen essen bei uns, einen Tag später Kaffee trinken bei euch. Warum Menschen ihren eigenen Geburtstag feiern und nicht den der Mutter, die sie zur Welt gebracht hat, habe ich schon als kleines Mädchen nie begriffen.

Wie dem auch sei: Wenn Du zu Besuch kamst, hast Du immer eine kleine braune Ledertasche dabei gehabt, in der sich eine Tafel Schokolade für jede Deiner drei Enkelinnen befand. Du hast an der Tür geklingelt, und ich war dann die erste, die die Treppe herunterstürmte, um Dich zu umarmen. Ich wurde schon hellhörig, wenn ich nur das Brummen Deines VW Fox hörte. Nicht, dass es mir so sehr um die Schokolade gegangen wäre, vielmehr habe ich mich auf Deinen Altherrengeruch und Deine Umarmung gefreut, auf Dein fröhliches Lächeln und Dein schelmisches „Na, Anja?“.

Seit Du nicht mehr bei uns bist, hat sich einiges verändert. Ich denke sehr oft an Dich, erinnere mich an Nachmittage in unserem Garten zurück. Dort gab es alles, was sowohl der Magen als auch die Augen begehrten. Ein ganzes Alphabet voller Köstlichkeiten – von A wie Apfelbäume über S wie Stachelbeeren bis hin zu Z wie Zwiebeln. Wir haben im Sommer schwarze und rote Johannisbeeren gepflückt oder Erdbeeren genascht und dabei stundenlang geredet.

Unser Gesprächsthema war oft der Krieg. Am meisten hast Du mir von Deiner Gefangenschaft in San Franzisco erzählt. Das war eine harte Zeit für Dich. Du hast mir aber auch oft von glücklichen Tagen berichtet und von Papa, als er ein kleiner Junge war. Und von seinen Brüdern. Auch von Oma hast Du geschwärmt, wie hübsch sie war. Sie ist acht Jahre vor Dir gestorben, und das hat Dich immer trauriger werden lassen. Du hast sie vermisst, Dich oft allein gefühlt. Einsam warst Du aber nie. Selbst in Deiner letzten Stunde hattest Du geliebte Menschen an Deiner Seite: Papa und mich.

Es ist jetzt über zehn Jahre her, dass wir Dich verloren haben. Doch nach wie vor ist der 14. Dezember Dein Geburtstag. Er wird es immer für mich sein. Solange ich lebe, werde ich ihn jedes Jahr in meinen Kalender eintragen – ganz so, wie ist es bisher getan habe. Alles Gute, Opa.

Schneevermögen

Mein Liebster ruft freudig erregt an und informiert mich darüber, dass es gerade schneit. Es ist der erste Schnee in diesem Jahr, und als ich aus dem Fenster schaue und die flauschigen Flocken niederschweben sehe, beginne ich zu träumen und denke an das Jahr 1985 zurück.

Ich bin fünf Jahre alt und trage eine rote Wollmütze, das damals noch blonde lockige Haar darunter lugt widerspenstig hervor. Ein Paar Fäustlinge ragen aus meinen Manteltaschen. Ich muss aufpassen, dass ich sie nicht verliere. Ein dicker und ebenfalls roter Schal umschlingt meinen Hals. Das Gesicht ist vom Herumtollen gerötet.

Es ist kalt geworden, die Straßen sind gefroren. Kinder tummeln sich darauf und fahren ihre kleinen Geschwister mit Schlitten herum. Einmal kommt eine Kutsche vorbei. Den Mann darauf kenne ich, es ist unser Nachbar. Er winkt uns zu. Seine Tochter sitzt auf einem der beiden Pferde und wuschelt ihm durch die schöne braune Mähne. Mit offenem Mund staune ich das Mädchen an. Ich finde sie mutig und möchte reiten lernen.

In Jahr 1985 jedenfalls bauen meine ältere Schwester und ich ein großes Schneeiglu. Unmengen an gefrorenem Nass schaufeln wir auf, um einen großen Berg zu erhalten. Mit Papas Hilfe graben wir uns in ihn hinein und höhlen ihn aus. Stundenlang spielen wir in unserem Iglu und naschen Süßigkeiten, manchmal sogar vor dem Mittagessen. Natürlich heimlich. Unsere Mutter wundert sich nur, dass wir keinen Hunger mehr haben. Aber wie Mütter so sind: Sie ahnt es, und wir ernten mahnende Blicke.

Was mich am meisten fasziniert, ist die Tatsache, dass es im Iglu so schön warm ist, obwohl doch keine Heizung vorhanden ist. Manchmal ist es sogar so angenehm, dass ich in Versuchung gerate, meinen Mantel auszuziehen.
Eines Morgens dann ist unsere Höhle verschwunden. Es hat getaut…

Das Telefon reißt mich aus meinen Tagträumen. Nachdem ich den Hörer aufgelegt habe, sehe ich aus dem Fenster und freue mich. Manche Gefühle und Erinnerungen daran bleiben also ein Leben lang bestehen…
Es ist wieder Winter.

Mein Leben mit Söhnen