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Arschkarte

8.00 Uhr am Morgen. Die Hauptstadt ist längst erwacht. Zwei etwa zwölfjährige Jungs sitzen mir in der S-Bahn gegenüber. Zwei schwere Schulranzen sind ihre Begleiter. Einer der Jungen stöhnt laut auf. „Mann, immer krieg ich die Arschkarte.“ Er beklagt sich darüber, wie nervig seine kleine Schwester heute beim Frühstück war, dass sie ihn geärgert habe. Und wer hat dann die Schuld am Streit bekommen? Natürlich er. Der Freund nickt mitfühlend. Das kann er verstehen. „Na, bald sind Ferien, da machen wir dann was Schönes zusammen!“ Er grinst. Ein wirklich guter Freund.

Die Arschkarte ziehen. Hierzulande dürfte dieser Ausdruck wahrscheinlich jedem bekannt sein. Doch woher diese Redewendung stammt, ist noch immer nicht ganz klar.

Meine favorisierte Vermutung: Beim Fußball trug früher der Schiedsrichter die Gelbe Karte in der Hemdtasche, die Rote Karte steckte in der Gesäßtasche. Häufige Spekulation hierbei: Die beiden Karten steckten an zwei verschiedenen Orten, da man ihre Farben wegen des Schwarz-Weiß-Fernsehens nicht unter scheiden konnte … Wie dem auch sei: Wem der Schiedsrichter die Arschkarte zeigte – nämlich diejenige, welche in der Gesäßtasche steckte -, flog vom Platz. Unangenehm. Aber so einfach war das.

Und auch heute noch gebrauchen wir diese Phrase, wenn uns etwas Unangenehmes passiert ist.


Schülerinnen in der S-Bahn


Echt nicht einfach

Der Liebste und ich sitzen in der Berliner S-Bahn. Unsere Ringbahn S 42 ist völlig überfüllt, verschiedenste Gerüche, die angesichts dieser Situation wohl nicht zu vermeiden sind. Das Schneechaos ist zwar fast vorüber, doch Autofahrer meiden das Benutzen ihres Vehikels noch immer. Man hat kaum Platz zum Atmen hier im Zug. Mal ist es der Ellbogen, der einem an den Kopf donnert, mal ist es der Rucksack, der einem in die Seite gerammt wird.

Doch dann haben wir Glück: Zwei Plätze einer Viererbank werden frei. Wir sitzen uns am Fenster gegenüber. Der Süße fährt vorwärts, ich sitze mit dem Rücken in Fahrtrichtung. Wir schnaufen und grinsen uns an. Hähä! Endlich sitzen! Uns zur Rechten sitzt eine junge Frau mit drei kleinen Jungs. Sie sind schätzungsweise zwei, sechs und sieben Jahre alt. Allesamt tragen sie Pudelmützen. Wahrscheinlich sind sie Brüder oder Cousins, denn sie sehen sich sehr ähnlich.

Die Jungen nennen die brünette Frau „Maria“. Die Mutter der Kleinen kann sie nicht sein, philosophiere ich so still vor mich hin. Sie kann es unmöglich sein: Zum einen ist sie viel zu jung, um dreifache Mama zu sein. Und zum anderen? Naja: Welches kleine Kind spricht seine Mutter heute noch beim Vornamen an? Das ist doch out. Jaja, es gibt da bestimmt so einige Ausnahmen. Aber Maria gehört mit Sicherheit nicht dazu: Peinlich berührt guckt sie, wer denn guckt. Vielleicht ist Maria die Babysitterin. Ja – oder ein Au Pair! Ich denke an meine Schwester Anna-Maria. Sie hat ein Jahr in Colorado bei einer Familie mit ihren zwei Kindern verbracht. Ich habe sie dort einmal besucht. Diese Landschaft … Das ist jetzt eineinhalb Jahre her …

Lautes Juchzen weckt mich aus meinem Tagtraum. Die Kinder hüpfen auf ihren Sitzen herum, grinsen sich frech an, werfen mit Bonbonpapier nach sich oder strecken sich die Zungen raus. Maria rollt einmal genervt mit ihren hübschen dunklen Augen. Sie wird mit Fragen rund um das Bahnfahren regelrecht bombardiert.
„Maria, warum ruckelt das so?“
„Duhu, Maria? Warum setzt sich der Mann nicht hin? Hier sind doch Plätze frei!“
„Mariaaaaaa? Warum macht der Zug immer so ein Getute, wenn der losfährt?“
Et cetera perge perge.

Die junge Frau versucht jede Frage so gut wie möglich zu beantworten, doch bei einer Frage gibt sich der Sechsjährige so gar nicht zufrieden.
„Maria, warum sind hier so Stangen?“
Dem ganz Kleinen fällt die Weihnachts-Pudelmütze in den nassen Schmutz am Boden. Er verzieht energisch den Mund und schaut Maria an. Maria hebt die Mütze auf und gibt sie dem Jungen.
„Da musst besser darauf aufpassen, Marius.“
„Mütze nich sauber!“, sagt der Marius jetzt ein bisschen wütend.

„Mariaaa!! Wozu ist denn nun die Stange!?“ Ein tiefes Seufzen.
„Die sind für die Leute, die nicht sitzen möchten. Man muss nämlich nicht sitzen, sondern kann hier auch stehen.“
Das hätte sie besser nicht gesagt. Der Kleine springt auf und steht nun im Gang. Natürlich hält er sich an der Stange fest. Maria schaut ihn ungläubig an. „Setz Dich bitte wieder hin!“
„Du hast doch gesagt, man muss nicht sitzen.“ Aus großen Augen schaut der Kleine die Große an – zugegebenermaßen recht provozierend.
„Vor allem hab ich gesagt, Du sollst Dich wieder hinsetzen!“ Marias Stimme bebt. Nein, sie klingt jetzt ganz und gar nicht mehr geduldig und aufmerksam. Sie möchte nach Hause. Man sieht es ihr förmlich an.
Ich habe Mitleid mit ihr und lächele sie an, als sie verlegen in meine Richtung schaut. Ein betretenes Grinsen zurück aus ihrer Richtung.

„Nächste Station: Westend“, sagt die Lautsprecherstimme in der Bahn.
„Wir müssen raus!“, schreit Maria – fast erleichtert diesmal.
Die Jungen hüpfen an uns vorbei in Richtung Tür. Maria stiefelt hinterher.
„Au Pair sein ist echt nicht einfach“, flüstert sie mir zu und lächelt mich dabei an.

Wenn der Maler zweimal klingelt …

10.00 Uhr. Es klingelt an der Tür. Gerade noch in Gedanken verloren, schrecke ich zusammen. Was war denn heute? Ach ja, der Maler. Etwas schwerfällig bewege ich mich in Richtung Tür. Da klingelt es auch schon wieder. „Jaja, ich komme ja schon.“
Klein ist er, der Malermeister. Seltsame Kurzhaarfrisur, Brille. Freundlicher Gesichtsausdruck. Er ist wohl so um Mitte 30. Grinst mich an.

„Tach, ick bin der Maler. Watt soll’n hier eigentlich jemacht wern?“ Oh Gott. Na, wenn der das nicht weiß …
„Ähm, letzte Woche wurden hier die Gasrohre ausgetauscht, und ein paar Tapetenstücke wurden erneuert, die jetzt über…“
„Ach jenau“, unterbricht er mich. „Jetzt habbicket wieda.“ Na, das ist aber schön. Und es beruhigt mich fast schon ein bisschen.

Ich möchte zurück zum Schreibtisch gehen, jede Menge Arbeit, die da noch wartet. Na, warten ist eigentlich ein viel zu milder Ausdruck. Nein, sie wartet nicht. Sie lauert. Wah. Ich tappe  in die Küche, setze Wasser für einen türkischen Kaffee auf. In Gedanken bin ich bei ihr, der penetranten Arbeit. Ich denke an den Kunden dahinter. Tiefes Einatmen. Tut das gut …

„Sind Sie Klavierspielerin von Beruf?“, ruft es aus meinem Wohnzimmer. Ich wähnte den Maler im Flur, und nun kommt seine Stimme doch tatsächlich aus meinem Wohnzimmer.
„Äh, nein. Ich bin Journalistin.“
„Ach sooo, na ick frach wegen den Klavier da.“ Er zeigt auf mein wunderschönes, inzwischen fast dreizehn Jahre altes schwarzpoliertes Rönisch.
„Ja. Nee … So, ich muss jetzt mal weitermachen.“
„Darf ick ma fragen, wie alt Sie sind?“ Na, die Frage ist doch ein bisschen intim. Aber ich habe ja kein Problem mit meinem Alter. Noch nicht.
„Klar dürfen Sie.“ Ich warte, dass er fragt. Ein bisschen dumm schaut er aus der Wäsche. Noch ein tiefes Seufzen meinerseits.
„29. Noch.“
„Oh, sehen aber aus wie 24! Ehrlich, ick sach dit nich nur so.“ Natürlich nicht.
„Danke.“
„Für dit Kompliment hab ick jetz een Kaffee verdient, wa?“ Er kichert. Ich finde das nicht komisch, verbietet mir doch meine Gastfreundschaft, nein zu sagen. Mist!

Der Maler macht sich im Flur an die Arbeit. Er schweigt. Genau zwei Minuten. Denn als ich ihm den Kaffee bringe, plappert er unentwegt weiter: von seiner zwölfjährigen Ehe, seinen beiden Kindern. Die Tochter ist elf, der Sohn ist acht.  Seine Kleine hat zwei Handys und einen Laptop. Und sie wird bald 14. Und dann beginnt sicher auch ihr Sexualleben. In seiner Jugend hätte man damit erst viiiel später begonnen. Ich schaue mir den Kerl genauer an. Schelmisches Grinsen, selbstsichere Körperhaltung. Na klar.
„So, ich muss jetzt wirklich arbeiten.“
„Meene Frau …“
Ich gehe ins Arbeitszimmer und schließe die Tür hinter mir.
Zwanzig Minuten später verabschiedet er sich. „Schüss!“, ruft er durch die Tür. Und dann ist er weg.