Schlagwort-Archive: Berlin

Zieh Leine!

Unterwegs in der Bergmannstraße. „Tiefstes Kreuzberg“. Hier tobt das Leben, und immer wieder fasziniert mich das. Vor mir auf dem Bürgersteig steht ein junger Mann um die 30. Der dünne Kerl hält eine rote Rose in der Hand und schaut verzweifelt an dem Haus hoch, vor dem er steht. Er macht mich neugierig. Ich bleibe stehen und schaue ebenfalls an der Häuserfassage hoch.

Mein Blick bleibt an einem rothaarigen Mädchen mit traumhafter Mähne haften, das aus einem der Fenster schaut. Sie macht ein missmutiges Gesicht. Das steht ihr gar nicht. Oh oh, ich ahne es: Diese Situation hier bedeutet Stress. Langsam und unauffällig bewege ich mich weiter.

„Mann, zieh endlich Leine! Ich will nichts von Dir!“ Sie schreit den jungen Mann an und knallt das Fenster zu. Ich fahre zusammen. Wie gemein. Mitleidig schaue ich ihn an. Er schaut zurück. „Da soll mir mal jemand sagen, dass ich nicht aufgeben soll. Ey, mir reichts!“ Er geht, die Schultern hängen. Ich kann ihn gut verstehen.

Mit der Redewendung Zieh Leine! fordern wir jemanden unsanft auf, endlich das Weite zu suchen. Höchstwahrscheinlich stammt sie aus der Binnenschifffahrt: Damals zogen noch Menschen und Pferde Kähne an dicken Leinen stromaufwärts. In ärmeren Gegenden wird noch heute „getreidelt“.

Auch ordentlich PS: Pferderennen in Hoppegarten

Eisbein … Beinhart … Hartnäckig.

(Foto: Anna-Maria Polaszewski)

Zwölf Uhr mittags. Es ist kalt. Aber so richtig. Na, macht ja nichts. Ich bin total warm eingepackt: Pullover, noch ein Pullover und darüber noch einer – mit Kapuze. Schal drum, Mütze auf, Kapuze über Mütze. Handschuhe an – und gut is. Und ganz wichtig: Ohrstöpsel für die synthetische Musik – essentiell wichtig für die Motivation heute. Und genau die brauche ich bei diesem Wetter.

Ich gehe jetzt nämlich joggen! Ja wirklich. Bei gefühlten minus 20 Grad. Ich frage mich, ob ich wahnsinnig bin. Als ich aus der Haustür trete, pfeift der Wind durch meine Laufeschuhe und zwei paar Socken. Ich bin wahnsinnig. Dies ist eigentlich der Moment, in dem ich zurück in mein Bett möchte. Nichts da, ich schaffe das schon. Aber das heute, das ist eindeutig Laufrekord bei Kälte – wenn ich durchhalte.

Die ersten Schritte sind getan: Ich befinde mich nun am Eingang des Schlossparks Charlottenburg in. Ich passiere die Unterführung der Schlossbrücke – und bin da. Alles weiß. Herrlich sieht das aus. Alles glatt. Gefällt mir weniger. Ein paarmal schlittere ich auf dem Eis herum, das sich auf den Wegen gebildet hat. Doch schon bald habe ich mich an meinen leicht veränderten RutschLaufstil gewöhnt.

Drei Runden (à drei Komma fünf Kilometer) muss ich laufen, dann habe ich mein Soll erfüllt. Nach etwa vier endlosen Kilometern kommt mir der erste Läufer entgegen. Ich freue mich, Leben hier draußen zu sehen und grinse ihn an. Ernten tue ich nur einen grimmigen Blick. Seine Nase ist knallrot, seine Hände sind eingepackt in dicke, schwarze Fäustlinge. Seinen Mund kann ich nicht sehen: Er hat den Schal einmal horizontal um sein Gesicht gewunden. Die zweite Runde habe ich jetzt auch fast geschafft. Meinem Mitläufer bin ich nicht wieder begegnet. Womöglich hat er es aufgegeben. Ich kann das gut verstehen.

Ein mittelgroßes Flockentreiben setzt ein. Kehre ich um oder laufe ich die dritte Runde noch zuende? Ein Eichhörnchen läuft mir über den Weg, schaut mich an wie ein Auto mit seinen Strahlern die Dunkelheit und flitzt davon. Was für ein Tempo! Was Du kannst, kann ich auch, denke ich – und entscheide mich, die Sache hier zuende zu bringen. Meine Oberschenkel haben angefangen zu Brennen. Da gewinnt doch der Begriff „Eisbein“ eine ganz andere Bedeutung. Grinsend überlege ich, beim nächsten Mal doch eine Strumpfhose zu tragen.

Echt nicht einfach

Der Liebste und ich sitzen in der Berliner S-Bahn. Unsere Ringbahn S 42 ist völlig überfüllt, verschiedenste Gerüche, die angesichts dieser Situation wohl nicht zu vermeiden sind. Das Schneechaos ist zwar fast vorüber, doch Autofahrer meiden das Benutzen ihres Vehikels noch immer. Man hat kaum Platz zum Atmen hier im Zug. Mal ist es der Ellbogen, der einem an den Kopf donnert, mal ist es der Rucksack, der einem in die Seite gerammt wird.

Doch dann haben wir Glück: Zwei Plätze einer Viererbank werden frei. Wir sitzen uns am Fenster gegenüber. Der Süße fährt vorwärts, ich sitze mit dem Rücken in Fahrtrichtung. Wir schnaufen und grinsen uns an. Hähä! Endlich sitzen! Uns zur Rechten sitzt eine junge Frau mit drei kleinen Jungs. Sie sind schätzungsweise zwei, sechs und sieben Jahre alt. Allesamt tragen sie Pudelmützen. Wahrscheinlich sind sie Brüder oder Cousins, denn sie sehen sich sehr ähnlich.

Die Jungen nennen die brünette Frau „Maria“. Die Mutter der Kleinen kann sie nicht sein, philosophiere ich so still vor mich hin. Sie kann es unmöglich sein: Zum einen ist sie viel zu jung, um dreifache Mama zu sein. Und zum anderen? Naja: Welches kleine Kind spricht seine Mutter heute noch beim Vornamen an? Das ist doch out. Jaja, es gibt da bestimmt so einige Ausnahmen. Aber Maria gehört mit Sicherheit nicht dazu: Peinlich berührt guckt sie, wer denn guckt. Vielleicht ist Maria die Babysitterin. Ja – oder ein Au Pair! Ich denke an meine Schwester Anna-Maria. Sie hat ein Jahr in Colorado bei einer Familie mit ihren zwei Kindern verbracht. Ich habe sie dort einmal besucht. Diese Landschaft … Das ist jetzt eineinhalb Jahre her …

Lautes Juchzen weckt mich aus meinem Tagtraum. Die Kinder hüpfen auf ihren Sitzen herum, grinsen sich frech an, werfen mit Bonbonpapier nach sich oder strecken sich die Zungen raus. Maria rollt einmal genervt mit ihren hübschen dunklen Augen. Sie wird mit Fragen rund um das Bahnfahren regelrecht bombardiert.
„Maria, warum ruckelt das so?“
„Duhu, Maria? Warum setzt sich der Mann nicht hin? Hier sind doch Plätze frei!“
„Mariaaaaaa? Warum macht der Zug immer so ein Getute, wenn der losfährt?“
Et cetera perge perge.

Die junge Frau versucht jede Frage so gut wie möglich zu beantworten, doch bei einer Frage gibt sich der Sechsjährige so gar nicht zufrieden.
„Maria, warum sind hier so Stangen?“
Dem ganz Kleinen fällt die Weihnachts-Pudelmütze in den nassen Schmutz am Boden. Er verzieht energisch den Mund und schaut Maria an. Maria hebt die Mütze auf und gibt sie dem Jungen.
„Da musst besser darauf aufpassen, Marius.“
„Mütze nich sauber!“, sagt der Marius jetzt ein bisschen wütend.

„Mariaaa!! Wozu ist denn nun die Stange!?“ Ein tiefes Seufzen.
„Die sind für die Leute, die nicht sitzen möchten. Man muss nämlich nicht sitzen, sondern kann hier auch stehen.“
Das hätte sie besser nicht gesagt. Der Kleine springt auf und steht nun im Gang. Natürlich hält er sich an der Stange fest. Maria schaut ihn ungläubig an. „Setz Dich bitte wieder hin!“
„Du hast doch gesagt, man muss nicht sitzen.“ Aus großen Augen schaut der Kleine die Große an – zugegebenermaßen recht provozierend.
„Vor allem hab ich gesagt, Du sollst Dich wieder hinsetzen!“ Marias Stimme bebt. Nein, sie klingt jetzt ganz und gar nicht mehr geduldig und aufmerksam. Sie möchte nach Hause. Man sieht es ihr förmlich an.
Ich habe Mitleid mit ihr und lächele sie an, als sie verlegen in meine Richtung schaut. Ein betretenes Grinsen zurück aus ihrer Richtung.

„Nächste Station: Westend“, sagt die Lautsprecherstimme in der Bahn.
„Wir müssen raus!“, schreit Maria – fast erleichtert diesmal.
Die Jungen hüpfen an uns vorbei in Richtung Tür. Maria stiefelt hinterher.
„Au Pair sein ist echt nicht einfach“, flüstert sie mir zu und lächelt mich dabei an.

Wenn der Maler zweimal klingelt …

10.00 Uhr. Es klingelt an der Tür. Gerade noch in Gedanken verloren, schrecke ich zusammen. Was war denn heute? Ach ja, der Maler. Etwas schwerfällig bewege ich mich in Richtung Tür. Da klingelt es auch schon wieder. „Jaja, ich komme ja schon.“
Klein ist er, der Malermeister. Seltsame Kurzhaarfrisur, Brille. Freundlicher Gesichtsausdruck. Er ist wohl so um Mitte 30. Grinst mich an.

„Tach, ick bin der Maler. Watt soll’n hier eigentlich jemacht wern?“ Oh Gott. Na, wenn der das nicht weiß …
„Ähm, letzte Woche wurden hier die Gasrohre ausgetauscht, und ein paar Tapetenstücke wurden erneuert, die jetzt über…“
„Ach jenau“, unterbricht er mich. „Jetzt habbicket wieda.“ Na, das ist aber schön. Und es beruhigt mich fast schon ein bisschen.

Ich möchte zurück zum Schreibtisch gehen, jede Menge Arbeit, die da noch wartet. Na, warten ist eigentlich ein viel zu milder Ausdruck. Nein, sie wartet nicht. Sie lauert. Wah. Ich tappe  in die Küche, setze Wasser für einen türkischen Kaffee auf. In Gedanken bin ich bei ihr, der penetranten Arbeit. Ich denke an den Kunden dahinter. Tiefes Einatmen. Tut das gut …

„Sind Sie Klavierspielerin von Beruf?“, ruft es aus meinem Wohnzimmer. Ich wähnte den Maler im Flur, und nun kommt seine Stimme doch tatsächlich aus meinem Wohnzimmer.
„Äh, nein. Ich bin Journalistin.“
„Ach sooo, na ick frach wegen den Klavier da.“ Er zeigt auf mein wunderschönes, inzwischen fast dreizehn Jahre altes schwarzpoliertes Rönisch.
„Ja. Nee … So, ich muss jetzt mal weitermachen.“
„Darf ick ma fragen, wie alt Sie sind?“ Na, die Frage ist doch ein bisschen intim. Aber ich habe ja kein Problem mit meinem Alter. Noch nicht.
„Klar dürfen Sie.“ Ich warte, dass er fragt. Ein bisschen dumm schaut er aus der Wäsche. Noch ein tiefes Seufzen meinerseits.
„29. Noch.“
„Oh, sehen aber aus wie 24! Ehrlich, ick sach dit nich nur so.“ Natürlich nicht.
„Danke.“
„Für dit Kompliment hab ick jetz een Kaffee verdient, wa?“ Er kichert. Ich finde das nicht komisch, verbietet mir doch meine Gastfreundschaft, nein zu sagen. Mist!

Der Maler macht sich im Flur an die Arbeit. Er schweigt. Genau zwei Minuten. Denn als ich ihm den Kaffee bringe, plappert er unentwegt weiter: von seiner zwölfjährigen Ehe, seinen beiden Kindern. Die Tochter ist elf, der Sohn ist acht.  Seine Kleine hat zwei Handys und einen Laptop. Und sie wird bald 14. Und dann beginnt sicher auch ihr Sexualleben. In seiner Jugend hätte man damit erst viiiel später begonnen. Ich schaue mir den Kerl genauer an. Schelmisches Grinsen, selbstsichere Körperhaltung. Na klar.
„So, ich muss jetzt wirklich arbeiten.“
„Meene Frau …“
Ich gehe ins Arbeitszimmer und schließe die Tür hinter mir.
Zwanzig Minuten später verabschiedet er sich. „Schüss!“, ruft er durch die Tür. Und dann ist er weg.