Erinnerung

Da bin ich nun. Vor einer Stunde sind sie gegangen. Jetzt bin ich allein. Allein mit mir selbst und meinen Gedanken. Der Fernseher ist bereits aufgebaut und angeschlossen. Irgendeine Sitcom dudelt da vor sich hin. Ich sehe gar nicht richtig hin. Hänge meinen Gedanken nach. Fremd ist es hier. Aber irgendwie schön. Ich weiß noch nicht so recht. Erinnere mich an mein Zuhause. Es ist so weit weg jetzt. Bin ich froh darüber oder traurig deswegen?

Jetzt sitze ich hier, inmitten voller Kartons, die alle noch ausgepackt werden müssen. Bilderrahmen. Meine kleine Schwester. Mein Hund. Mein Klavier. Schwarzpoliert. Rönisch. Sie alle habe ich zurückgelassen. Jetzt kann ich nicht zurück. Auch meine geliebten Kinderbücher habe ich dort gelassen. Ich bin ja aber auch kein Kind mehr. Ich bin jetzt eine junge Frau mit Abitur. Was solls, hole ich sie eben irgendwann einmal nach.

Nichts steht so, wie es einmal stehen soll. Ein heilloses Durcheinander. Chaos. Ich lache laut. Weiß gar nicht, wo ich beginnen soll. Ich denke an meine Schule, an den Lehrer, der noch vor kurzem zu mir gesagt hat: „P., halt die Klappe, sonst schaffst Du Dein Abi nie!“. Und manchmal, wenn andere oder er sich selbst unter Druck gesetzt hat, sagte er auch: „Eines after dem anderen.“ Ich lache noch einmal laut.

Neben mir steht ein leerer Pizzakarton. Ich löffele aus einem Becher Haägen-Dazs Strawberry Cheesecake. Der erste in meinem Leben. Habe ich hier um die Ecke gefunden. Was man hier alles finden kann. Die Neugier treibt mich wieder raus. Ich lasse alles so stehen wie es ist, ziehe meine Chucks an und verlasse meine 30 Quadratmeter Studentenbude.

Ziellos irre ich durch Berlin. Staune, schaue an diesem oder jenem Haus hoch. Laufe gegen eine Straßenlampe. Grinse verlegen. Laufe weiter. Pestalozzistraße … Wow. Ich habe noch nie so viele Neubauten gesehen. Börek. Was ist das denn? Ich probiere einen. Mit Spinat und Schafskäse. Das also habe ich jahrelang vermisst …

Wieder in meiner Bude. Ich setze mich entspannt an mein E-Piano und schreibe ein paar Songs. Meine Finger sind eins mit den Tasten. Draußen ein Krankenwagen. Ein Nachbar schreit rum. Und dennoch: Ich fühle mich frei. Ich bin 19 – und ich bin neu in Berlin. Mein Berlin. Hier möchte ich nie wieder weg. Das schwöre ich mir an meinem ersten Abend hier.

Einzug in die erste Berliner Wohnung

11 Gedanken zu „Erinnerung“

  1. 19 Jahre … Inzwischen sind mehr als zehn Jahre seit dieser Zeit vergangen. Ich finde es einfach erstaunlich, wie die Zeit rast – je älter ich werde, desto schneller tut sie das. Einfach so …
    Habt ihr das Gefühl auch?

    Liebe Grüße an alle,
    Coralita

  2. Schöne Erinnerungen. Bei mir selber gab es diesen Moment nie. Ich bin in Köln geboren und hatte eigentlich schon immer das Gefühl „Hier will ich nicht weg!“
    Außer um zu reisen, da will ich ständig weg 😉
    Gruß
    Fulano

  3. Ich weiß auch noch, wie’s bei mir war… 19 Jahre und ich ging nach Hamburg zum Studium. Nicht weit weg von Kiel, aber da ich ja auch nur aus einem Dorf in der Nähe komme, war Hamburg dann schon richtig groß und weltstädtisch 😉

  4. Liebe Coralita,
    ja, manche Erinnerungen bleiben im Gedächtnis, als ob es gerade gestern gewesen wäre. Dein toller Text ist ein Beweis dafür …
    Liebe Grüße zu dir
    Iris

  5. Hola!

    Wirklich ganz ganz ganz zufälligerweise
    hab ich quasi die Vertonung dazu vorgenommen. (Dein Text)
    Siehe hier. 😉
    Die Original-LP ist natürlich archiviert. (Diesmal keine Spielchen! ;-))

    „Η νύχτα έχει χίλια μάτια.“ 😉

  6. Hallo, Coralita, für mich fand ich vor zig Jahren den Unterschied von Görlitz zu Dresden gar nicht schlimm, außerdem war es Internat.
    Aber als 1988 die Tochter für ein Jahr nach Moskau ging, da hatte ich schon ganz schön Muffensausen, denn die Verhältnisse waren ja nicht gerade die angenehmsten dort. Es aht ihr aber sehr, sehr gut gefallen, am liebsten wäre sie dort geblieben, weil die Mentalität der Leute so viel freundlicher ist als sehr oft hier.
    Lieben Gruß von clara

  7. Lieber Rüdiger,

    ich denke, heute fühlt es sich noch genauso an, ja. Bei mir ist es inzwischen mehr als zehn Jahre her …
    Wie alt ist denn eure Tochter? Mach Dir keine Gedanken: Flüggewerden hat durchaus seinen Reiz. Vertrau mir. 🙂

    Herzlich,
    Coralita

  8. Danke, Anna-Lena. Das ist nun bereits mehr als zehn Jahre her. Aber ich erinnere mich daran, als wäre es vor ein paar Tagen gewesen. Jung, frei, neugierig. Und irgendwie ist das bis heute so geblieben. *Lächel*
    Ich wünsche Dir ein schönes Wochenende!
    Coralita

  9. So fühlt es sich heute an? Merci für den Einblick, ein fein zu lesender Text.

    *schluck* Das steht uns noch bevor, das „Kind“ geht raus in die Welt, alleine in eine fremde Stadt, ich freue mich jetzt schon für sie, mag aber nicht dran denken.

  10. So wird es vielen jungen Menschen gehen, die nach dem Schulabschluss ihren eigenen Weg gehen, hin und her schwankend zwischen Vertrautem, Behütetem und einem neuen Lebensabschnitt auf eigenen Beinen. Toll geschrieben, liebe Coralita.

    Herzliche Grüße
    Anna-Lena

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