Lange Haare nur für Mädchen? Von wegen!

Mädchen sind Prinzessinnen, Jungs weinen nicht? Mädchen haben lange Haare und kleiden sich in Farben wie Rosa oder Pink, und Jungs sind auf dem Kopf kurzgeschoren und lieben Grün und Blau? Wagt ein Kind, „anders“ zu sein als in dieser Gesellschaft vorgelebt, wird es gehänselt oder manchmal sogar ausgegrenzt – das betrifft heute zumindest optisch vor allem das männliche Geschlecht.

Räumen wir doch endlich auf mit den dämlichen Rollenklischees und lassen unsere Kinder einfach das sein, was sie auch sind: Kinder eben – und keine Geschlechter.

Es nervt langsam: Wir schreiben das Jahr 2021, und noch immer scheinen so viele Menschen zu glauben, nur Mädchen dürften sich die Haare wachsen lassen. Tragen sie einen Kurzhaarschnitt, sieht das „cool“ aus, tragen sie Blau oder Grün, ist das „schön frech“. Möchte aber ein Junge Violett oder lange Haare zeigen, kommen so richtig dumme Sprüche. „Bist Du ein Mädchen?“ oder „Bist Du schwul?“

Ungleichberechtigung einmal andersherum. Denkt euch an dieser Stelle bitte trotzdem ein Augenzwinkern, denn im Idealfall haben unsere Kids so ein gutes Gespür dafür, was absurd ist oder nicht, dass sie – wie mein P. neulich – auf die Frage „Hä, warum hast Du denn so lange Haare?“ antworten: „Na, weil sie wachsen. Und weil sie es bei mir dürfen!“. Boah. Es läuft mir noch immer heißkalt den Rücken runter. Was für eine Antwort!

Friseur oder Haarband
Für meinen Achtjährigen ist klar: Die Haare sollen eine ganze Weile sprießen. Wohin? Weiß er noch nicht. „Mal sehen.“ Ich finde es einfach wunderbar, dass er das ausprobieren möchte. Richtig kurzes Haar hatte P. ohnehin nur als Neugeborener und kennt es an sich auch gar nicht.
Seine Mähne reicht ihm inzwischen am Hinterkopf bereits bis über den Schulterbereich. Er befindet sich aber noch immer in dieser unbequemen „Übergangsphase“, in der die Strähnen ihm im Gesicht hängen. „Das stört mich nicht“, behauptet er (und mustert sich „heimlich“ gern im Spiegel …). Scheint tatsächlich so zu sein.

Die Klassenlehrerin allerdings schrieb mir deshalb neulich eine E-Mail, in der sie mir mitteilte, dass P. ein Haarband brauche, um besser arbeiten zu können. Er sitze immer auf eine Hand gestützt da, und das läge ihrer Meinung nach am längeren Haar. Na gut: Wir legen ein paar Haarbänder in P.s Ranzen – ganz zufrieden ist mein Sohn damit nicht, obwohl die Teile „handmade“ und wirklich toll sind. P. sagt, er kommt auch ohne klar. Wir wollen doch aber seine Lehrerin schön bei Laune halten … Ich stelle also die entscheidende Frage: „Friseur oder Haarband?“ P. überlegt nicht lange, antwortet selbstsicher: „Band bitte!“

Problem“ gelöst: mit Band und Spange
Und dann beichtet er: „Du Mama? Ich hab ehrlich gesagt keinen Bock, in der Schule gerade zu sitzen, möchte mich lieber auf meiner Hand abstützen. Und am liebsten trage ich offen, weil ich dann den Wind so schön spüre.“ Irgendwie war mir das klar; ich unterdrücke ein Grinsen. „Das verstehe ich, trag Dein Band bitte trotzdem. Oder … Nimm eine Spange.“

Und da kommt mir auch schon eine Idee: Ich beklebe einige meiner Haarspangen mit kleinen Legosteinen und Motiven wie Drachen – ein echter Hingucker, wie ich finde. P.s Kumpel S. ist fast neun Jahre alt und trägt schon seit längerem solche Haarspangen, „weil er Stirn- und Gummibänder nicht so mag“. Na also; ich freue mich für meinen Sohn, dass er einen Kumpel wie diesen hat – gerade jetzt auch in diesem Alter, in dem es immer wichtiger wird, was die Freunde denken. Und die sind – zum Glück – allesamt keine Dämlacke (Entschuldigung).

Löwenmähnen-Bändiger!
Am nächsten Morgen erklärt er sich also freiwillig bereit, sein dickes, welliges Braunhaar ab sofort im Unterricht aus dem Gesicht zu halten. „Stell Dir vor, Du bist Dein eigener Löwenmähnen-Bändiger!“, schlage ich vor. P. kichert. Dieses Bild findet er so richtig gut.

P.s Lehrerin schreibt mir übrigens noch am gleichen Vormittag, einige Kinder hätten geschmunzelt oder gekichert als sich der Sohni sein Stirnband aufzog, „aber er ist klar selbstbewusst und steht definitiv zu seinem langen Haar.“ Na klar! (Wie wunderbar.)

„Pata Pata“: Gleichheit und Gerechtigkeit

Es ist Dienstagmorgen. Die Kinder sind in der Schule und im Kindergarten. Und ich arbeite. Eigentlich …

Denn jetzt erscheint in meiner Playlist die melodiegewordene Elegie „Pata Pata“ der längst verstorbenen, kapstädtischen Sängerin Miriam Makeba. (Ihr vollständiger Name lautet übrigens: Zenzile Makeba Qgwashu Nguvama Yiketheli Nxgowa Bantana Balomzi Xa Ufun Ubajabulisa Ubaphekeli Mbiza Yotshwala Sithi Xa Saku Qgiba Ukutja Sithathe Izitsha Sizi Khabe Singama Lawu Singama Qgwashu Singama Nqamla Nqgithi … Ob Miriam selbst ihn auswendig kannte? )

„Pata Pata“. Murmelt man diese etwas nach einer Zauberformel klingenden Worte einmal vor sich hin, kommt man vielleicht schon von selbst auf ihre Bedeutung: Pata – das ist „Xhosa“, eine der zahlreichen Amtssprachen Südafrikas, und bedeutet „Pfote“. Und was macht man mit eben so einer Pfote? Genau, man betritt den Boden, berührt ihn, legt sich auf ihn, windet sich auf ihm … „Pata pata“ dürfte gleichbedeutend sein mit „berühren, berühren“. Anfassen. Spüren. Erforschen.
Erklingt der Song, soll man tanzen, MUSS man tanzen; so jedenfalls fordert es die Sängerin mit der rauchigen, kraftvollen Stimme.

„Its pata pata time!“, schreit Miriam Makeba leidenschaftlich. Es ist ein Weckruf an Lebensfreude und „Afrika-Sehnsucht“. Gänsehautfeeling inbegriffen …

„Pata Pata“ ist wie so viele Songs der großartigen Afrikanerin eine Mischung aus Folklore und Jazz. Seit seinem Erscheinen 1967 wurde das Lied weltbekannt .

Intermezzo: Ein sehr enger Freund aus meinem Leben als Laienmusikerin korrgierte mich dazu wie folgt: „Alle ‚afrika-typischen‘ Musizierelemente wie Call-and-Response und Improvisation können eher umgekehrt als Einfluss auf den Jazz gesehen werden.“ Jo, ganz bestimmt. Aber: Was war zuerst da: das Huhn oder das Ei? 😉

Die Sängerin jedenfalls liebte Tiere, Menschen aber verehrte sie. In ihrer Heimat liebevoll „Mama Afrika“ genannt, stellte die Künstlerin sich selbst und vor allem ihre wunderbaren Lieder in den Dienst von Freiheit und Gerechtigkeit. Es sind Stücke voller Melancholie, Protest und Stolz. Mehr brauche ich gar nicht schreiben. Fühlt ihr „es“?

Ich mache dann jetzt mal weiter im realen Leben.
Die Arbeit ruft. Schluss mit der Träumerei (jedenfalls fürs Erste …).

Wenn Kids flunkern

Dein Kind hat hinter Deinem Rücken klammheimlich die Schokolade aus dem Schrank gemopst und dann auch noch behauptet, es nicht gewesen zu sein – mit diesem zuckersüßen Lächeln auf dem Gesicht? Das kommt mir bekannt vor: Meine beiden Söhne sind im August dieses Jahres fünf und acht Jahre alt geworden und flunkern auch, dann und wann. Bleibt locker, aber dennoch wachsam.

Am Abend: „Reingelegt mit Klopapier, eine Rolle schenk ich Dir!“ Mein Fünfjähriger hüpft aufgeregt um mich herum, der Schalk blitzt ihm aus den Augen.

Was ist passiert? Vor etwa einer Minute noch rief er: „Mama, hinter Dir steht ein Elch, wirklich!“ Ein Elch, hier. Ah! Ich verstehe: Der Piefke will mich vereimern. Na fein, dann spielen wir mal mit. „Wo?!“, rufe ich ebenfalls und drehe mich dabei hektisch um. Und dann ertönt es eben laut: „Reingelegt mit Klopapier … !“

K. freut sich diebisch, dass er es offensichtlich geschafft hat, seine Mama aufs Korn zu nehmen. Jetzt will es natürlich auch P. wissen. „Mama, guck mal, da draußen ist ein Storch!“ und zeigt aus dem Fenster. Na gut. Dann wollen wir mal … „Wo!?“ Ich. „Reingelegt mit Klopapier, eine Rolle schenk‘ ich Dir!“ Ich schlage mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Danke“, sage ich gespielt, aber betont würdevoll, „fürs Klopapier. Kann man immer gut gebrauchen.“ Die Knirpse lachen sich scheckig.

Vorletzten Samstag: Wir sitzen bei der Schwägerin an der Kaffeetafel. Sie fragt unseren Achtjährigen: „Die Ferien sind ja fast vorbei. Freust Du Dich auf die Schule?“ Ich weiß die Antwort: Und wie! Die sechs Wochen waren zwar schön, aber doch ziemlich lang … „Nö!“ Vehement schüttelt das Kind plötzlich den Kopf. Hm? „Wie? Du vermisst Deine Freunde gar nicht?“ Meine Schwägerin wundert sich doch sehr. Erneut: „Nö!“ Der lügt doch!

Lügen: eine Frage der Entwicklung
Bereits kleinen Kindern scheint das Lügen so richtig viel Spaß zu machen. Und auch ich bekomme mit, wenn meine Jungs flunkern – finde es aber ehrlich gesagt (noch) nicht so schlimm. Vorwürfe, ermahnende Diskussionen oder Schlimmeres sind da in meinen Augen wenig nutzbringend. Denn was tun die lieben Kleinen (und Größeren), die betraft werden, erfahrungsgemäß? Genau: noch mehr und heftiger lügen – aus Angst zum Beispiel. Ich versuche also, zunächst einmal den Grund fürs Flunkern herauszubekommen, denn irgendeine Absicht steckt nun mal hinter diesem Verhalten.

Wie denken andere darüber? In den sozialen Netzwerken frage ich ein paar Erwachsene, wie sie dem Thema „Lügen“ in ihrer Familie gegenüberstehen. Anne (43) aus Münster sagt: „Moralisch betrachtet finde ich Lügen auf der Erwachsenenebene schlimm. Kinderlügen messen wir meiner Meinung nach aber zu viel Gewicht bei; immerhin muss der Mensch im Laufe seines Lebens auch erst einmal lernen zu lügen. Dafür müssen wir unseren Kleinen den Raum geben.“

Das Spiel mit der Wahrheit
Eine Frage der Entwicklung also? Definitiv; darüber sind sich auch Kinder- und Jugendpsychiater einig: Das Spielen mit der Wahrheit gehört eben zur kindlichen Entwicklung. Ich lese noch einmal nach: nämlich, dass Kinder bis zu ihrem vierten Lebensjahr zwischen wahr und falsch sowieso noch keine klare Trennung ziehen können. Sie fantasieren, übertreiben, spielen mit imaginären Freunden … Das ist doch wunderbar, finde ich, und überhaupt kein Grund zur Sorge.

Mit etwa sechs Jahren, also im Vorschul- und frühen Schulalter, erlangen Kinder die Fähigkeit, komplexere Situationen zu überschauen und abzuschätzen: Wie kann ich die Wahrheit verändern? Was passiert, wenn ich einfach behaupte, mir bereits die Hände gewaschen zu haben? Das ist natürlich absolut harmlos und ohne jedwede böse Absicht. Würde aber zum Beispiel einer meiner Söhne dauerhaft falsch angeben, schon seine Zähne vorgeputzt zu haben, würde ich wieder konsequent mit dabei zu sitzen, bis ich wieder „sicher“ bin: Sie tun es auch wirklich. Denn hier geht es um etwas „Essenzielles“: Karies ist sowohl kurz- als auch langfristig wirklich richtig doof. (Und nebenbei erkennen die Kinder im übrigen, dass Wahrheit mit Vertrauen zu tun hat …)

Wo sind die Grenzen?
Der 43-jährige Sven lebt in der Nähe von Leipzig; er sagt dazu: „Ich habe zwar keine Kinder, glaube aber, dass sie flunkern/lügen, weil sie die Welt erforschen und verändern möchten.“
Und genau das ist es: Stück für Stück mehr Erfahrung mit dem Leben und der Welt sammeln, Antworten finden auf die Frage: Was ist „erlaubt“ und was nicht? Wo sind meine Grenzen, wo die der anderen?

„Für die Kleinen sind Begrifflichkeiten wie Lüge und Wahrheit noch keine festen Größen, es sind dehnbare Werte. Das Verstehen von Richtig und Falsch, von Lüge und Wahrheit muss sich erst langsam herausbilden“, fasst es Hubertus (55) aus Quakenbrück noch einmal prima zusammen. „Man kann einem Dreijährigen nicht das Verständnis abverlangen, das sich ein Zehnjähriger gerade so erarbeitet hat.“

Doreen, 49, aus Hamburg bespricht deshalb alles vis-à-vis mit ihren vier Kindern im Alter von sieben bis 17 Jahren – auch das Thema Unehrlichkeit. Und je nach Alter immer auf verschiedenem Niveau. „Meine Jungs und Mädels wissen: Menschen sind aus verschiedenen Gründen unehrlich: aus Unsicherheit, Höflichkeit. Ob kleine oder große Lügen: Sie helfen nun einmal auf lange Sicht nicht, wirklich etwas zu verändern. Wir vermitteln unseren Kindern: Ehrlichkeit kann Schmerzen verursachen; es ist aber immer noch besser als zu flunkern – zumal aus einem Geflunker auch schnell eine fette Lüge erwachsen kann, die schlimme Konsequenzen mit sich bringen kann, sowohl für den Lügner als auch für den Belogenen.“

Die sechsköpfige Familie redet offen über den Wert von Aufrichtigkeit und Vertrauen „und die Wertschätzung, die es bedeutet.“ Darf ich also der Oma sagen, dass ihr Geburtstagsgeschenk mir überhaupt nicht gefallen hat? „Ja!“, findet Doreen. „Aber bitte wertschätzend.“

Offenheit von Anfang an
Wie ist es aber beispielsweise mit Lügen, die anderen Kindern schaden? „Die sollte man auf keinen Fall mit einem Augenzwinkern abtun“, meldet sich die 44-jährige Grundschullehrerin Maike aus Bochum zu Wort. „Hier sollte das Kind zur Rede gestellt werden. Lehrer und Erziehungsberechtigte müssen erklären, dass man mit seinen Mitmenschen so nicht umgehen darf. Dazu bedarf es einer idealerweise bereits im Elternhaus vermittelten Offenheit in solchen Dingen.“

Sonja, 35 Jahre alt, aus München, hinterfragt zur Zeit tatsächlich ihr eigenes Verhalten: „Als ich einmal herausfand, dass mein achtjähriger Sohn für mein Empfinden und über einen längeren Zeitraum schlimm gelogen hatte, fragte ich ihn, warum er mir denn nicht gleich am Anfang die Wahrheit gesagt habe. Er begann das Weinen und erwiderte, er habe Angst vor Bestrafung gehabt und sich eben deshalb nicht getraut. Es wüteten wohl einige Dämonen in seinem Kopf … Da habe ich natürlich geschluckt und mich gefragt: War ich sonst zu streng? Ich versuche jetzt konsequent, meinem Kleinen zu vermitteln, dass er mir wirklich alles sagen darf und kann.“

Auch der 51-jährige Oldenburger Torsten sammelte in der Vergangenheit so manche negative Erfahrung mit dem sensiblen Thema: „Wenn meine Tochter damals log, beunruhigte mich das. Denn sie tat es aus Angst davor, Fehler oder Missgeschicke zuzugeben. Aus meiner Sicht war die Furcht unbegründet, es gab ja keine Strafen oder Gemecker, Fehler sind doch menschlich. Gleichwohl hat sie oft gelogen … Das hat sich inzwischen mit jetzt 18 Jahren gelegt.“

Alles braucht also seine Zeit – findet auch Hubertus – und hat gleich ein prima Schlusswort für diesen Text parat: „Lasst den Kindern doch erst mal ihre Sicht auf die Dinge, ihre Zeit zum Lernen und Verstehen ist schon kurz genug.“