„Paise please!“, fordert mich die Kleine mit den tiefbraunen Kulleraugen auf. Ihre dunkle Hand streckt sich mir energisch entgegen. Sie möchte Geld. Das etwa zehnjährige Mädchen ist winzig und mager, Kleidung und Haare starren vor Schmutz. Sie schaut mich aus so traurigen Augen an, dass mir das Herz butterweich wird. Mitleid ist ein zu harmloser Ausdruck für das, was ich für das schlaksige Kind empfinde. Ich versuche, mich an das zu halten, was mir so viele Traveller vor der Indienreise mit auf den Weg gegeben haben: Distanz wahren – vor allem emotional. Ich straffe die Schultern, stelle mich aufrecht hin und sage auf Hindi „nej“ – nein.
Es ist halb acht am Morgen. Die Ameisen in meinem Hotelbett haben mich gepiesackt; der Schlaf brennt noch in den Augen. Das Mädchen zerrt ungeduldig an meinem Ärmel. „No!“ entfährt es mir vielleicht einen Deut zu laut. Direkt neben uns muht es, ich zucke zusammen. Eine große, schwarz-weiße Kuh stöbert im Müll. Die Schecke frisst einen undefinierbaren, bräunlichen Brei. Vielleicht sind es Reste von Dhal, dem typisch indischen Linsencurry. Vielleicht aber auch nicht, und vielleicht will ich gar nicht wissen, was es ist. „Mutter Kuh“ bedeutet den Indern viel: Sie liefert fettreiche Milch und ernährt damit ganze Familien. Geschlachtet wird nicht ein Tier, selbst wenn der Hungertod droht.
Delhis Gassen stinken. Die Luft scheint hier zu stehen, heute sind es an die vierzig Grad Hitze. Ich bin in einen langen Shalwar Kamiz gekleidet, neben dem Sari ein traditionelles Frauengewand. Es besteht aus einer langen Hose, einem längeren Hemd und einem Schal. Ich laufe durch das übervolle Viertel Chandni Chowk, quetsche mich an Händlern, Bettlern und Rikschas vorbei. Zwölf Millionen Menschen. Es riecht nach Fäkalien, Gewürzen und Räucherstäbchen. Trotz einheimischer Kleidung falle ich als Weiße sofort auf. Jeder möchte mir seine Dienstleistungen anbieten. Ich bleibe einen Moment stehen und lasse auf mich wirken, was ich sehe: In einer Ecke verkaufen Menschen Obst und Gemüse, in die andere uriniert ein Mann. Auf dem Boden liegen die Überreste von ausgespucktem Paan, dem indischen Kautabak, der ein bisschen an Blut erinnert. Aus den Augenwinkeln sehe ich etwas hängen: lose Elektrokabel an einem verfallenen Kolonialbau – ein Überbleibsel der Engländer.
Ich fahre zum Shish-Ganj-Tempel. Hier gibt es ein kostenloses Mittagessen für alle, auch für Obdachlose. Ich nehme an dem gemeinsamen Mahl zwischen den verschiedensten Menschen der unterschiedlichsten Kasten teil. Es gibt Kürbisgemüse mit Reis. Mit einem Three-Wheeler, dem Tuk-Tuk, lasse ich mich zum nächsten U-Bahnhof fahren. Mein Fahrer heißt Harish und ist sehr gesprächig. Er erklärt mir, dass es U-Bahnen in Delhi erst seit Ende 2002 gibt. In seinem gebrochenen Englisch vermittelt er mir auch die Grundregeln des indischen Straßenverkehrs. „Good horn, good brakes, good luck“: Man braucht eine gute Hupe, gute Bremsen – und jede Menge Glück. Er lacht. Und genauso erlebe ich es auch: Wer zuerst kommt, fährt zuerst. Oder: Wer am lautesten hupt, kommt durch.
Am U-Bahnhof kaufe ich eine „Fahrkarte“ in Form eines runden Plastikchips. Ich steige gleich in den ersten Wagen – und sehe nur Frauen. Später erfahre ich, dass das ein Waggon speziell für das weibliche Geschlecht ist. Männer haben hier keinen Zutritt. Station Central Secretariat. Vor mir baut sich ein zweiundvierzig Meter hoher Triumpfbogen auf: das India Gate. Auf ihm stehen die Namen von 85.000 indischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg ihr Leben ließen. Drumherum: riesige, saftig-grüne Parkanlagen. Alles ist groß, sauber und weitläufig. Was für ein krasser Gegensatz zum hektischen, schmutzigen Chandni Chowk!
Sechs Uhr am Abend. Zurück in „meinem“ Viertel. In einem Restaurant bestelle ich „Thali“. Ich habe keine Ahnung, was das ist, aber die Überraschung ist angenehm: Man serviert mir eine Platte mit verschiedenen Metallschälchen. Darin: verschiedene einheimische Kleinigkeiten wie Reis, Kartoffeln, Dhal, Gemüse, Joghurt und Rahmkäse. Satt und zufrieden betrete ich die Straße, und da ist sie wieder: ganz Schatten ihrer selbst, und ich hatte sie schon fast vergessen: die Kleine von heute Morgen. Ich habe gut gegessen, sie hingegen hat bestimmt Hunger. Soll ich ihr jetzt doch Geld geben? Ich habe in einem Reiseführer gelesen, dass an einer Straßenecke bereits die Eltern lauern, um ihrem Kind das Geld abzunehmen. Davon kaufen sich einige dann Drogen oder Alkohol.
Ein paar Meter weiter gibt es einen Laden, in dem man Getränke und Backwaren kaufen kann. Die Creme Rolls sehen gut aus. Ich bedeute der Kleinen, mitzukommen. Als ich ihr eine süße Blätterteigrolle mit Sahnefüllung in die Hand drücke, starrt sie mich an. „No, madam. Rupee!“, sagt sie bestimmt und mit einem energischen Stirnrunzeln. Nicht eine Sekunde wendet sie ihren intensiven Blick von mir. „No money!“, sage ich. „Eat!“ Die kleine Inderin schaut die Süßigkeit skeptisch an. Sie hebt den Zeigefinger und will über die Sahne streichen. Ein hupendes Tuk-Tuk lässt sie zusammenzucken. Ich nicke ihr ermutigend zu. Noch ein Versuch, dann klebt die Sahne an ihrem Finger. Vorsichtig leckt sie daran. Die Lippen schließen und öffnen sich, schmecken die ungeahnte Köstlichkeit. Zögerlich schaut sie sich um, wie um sich zu vergewissern, dass niemand sie sieht. Dann verschlingt sie die Rolle hastig und läuft zum nächsten Passanten. Und dann wird es dunkel – so schnell, dass ich dabei zusehen kann. Irgendwie hat sich die Sonne dem hektischen Lebensrhythmus Delhis angepasst.
Wild und ängstlich zugleich: kleines Mädchen in Delhi
Hinweis: Diese Reisereportage erscheint in Kürze in der Neuen Osnabrücker Zeitung.