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Faces in Times of Corona (oder: Gesichter und Geschichten einer Pandemie)

„Liebe Anja“, beginnt meine Münsteraner Freundin Anne Knoke ihre Widmung im selbst gestalteten und herausgegebenen Bildband „Faces in Times of Corona“, „hier ist es nun, das Buch dieser merkwürdigen Zeit …“
Dann folgen sehr persönliche Worte an und für mich, aber „merkwürdige Zeit“ trifft es. Trifft mich. Und das immer wieder, wenn ich ernsthaft darüber nachdenke.

„Was bewegt Dich?“
„Als Corona anfing …“, lautet Annes erster Satz, wenn sie einen Interviewpartner für ihr Fotoprojekt „Faces in Times of Corona“ vor die Kamera holt. Sie lässt die Protagonisten dann eigenständig diesen Satz beenden – und drückt dabei ein paar Mal auf den Auslöser. Auf den nächsten Satz, auf die nächsten Worte folgt der nächste Shoot – und manchmal sprudelt es dann förmlich aus den Menschen heraus.
„Die ersten Gesprächspartner kamen aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis, später auch aus anderen Städten und Regionen Deutschlands.“ Die essentiellen Fragen an alle Teilnehmenden: Wie geht es Dir jetzt in der Pandemie-Zeit? Was machst Du, was bewegt Dich?

„Ich wusste: Es wird eine langwierige Sache“
Gedanken und Gefühle, Sorgen und Ängste, Beklemmungen und Hoffnungen: All die möchte Anne gern erfahren und in Wort und Bild für die Zukunft festhalten: „Ich dachte mir Anfang des Jahres 2020 schon, dass das eine langwierige Sache wird“, schreibt sie mir im Chat. „Und jetzt haben wir bald März 2022 …“ Ich spüre ihr Achselzucken förmlich und bis hierher. Sie ahnte es bereits zu einem Zeitpunkt, zu dem viele andere noch an ein recht kurzes „Ende mit Schrecken“ glaubten.

Ihre wunderbaren Interviews und berührenden Fotografien postet Anne anfangs in den sozialen Medien und auf ihrer Website. Sie nennt die Serie „Faces in Times of Corona“, wörtlich übersetzt: Gesichter in Zeiten von Corona.
Die Resonanz auf das Projekt ist sehr gut, immer mehr Menschen möchten der inzwischen 43-Jährigen gern Rede und Antwort – und vor allem: Porträt – stehen. So viele Interviews und Bilder kommen auf diese Weise zusammen, dass die Mutter dreier Kinder beschließt, alle in einem Buch zusammenzuführen und vor allem die Fotografien wirken zu lassen – neben einzelnen aussagekräftigen Zitaten. Anne dokumentiert zunächst einmal ab März 2020 und bis Mai 2021 – über ein Jahr Pandemie.

Christoph, Clown und Pantomime

„Entweder, es erwischt mich … oder nicht.“
Während ich das Buch durchblättere, um hier mal mehr und dort noch mehr hängenzubleiben, stelle ich wieder einmal fest: Menschen sind so vielschichtig wie das Leben selbst – ihr Erscheinungsbild, offensichtliche Charaktere, Ansichten …

Esther ist psychologische Psychotherapeutin. Sie weiß um die seelische Not mancher Menschen in Zeiten von Corona. „Ich habe von Anfang an schon mit Schrecken daran gedacht, was das für soziale Folgen haben wird. Und das scheint sich jetzt zu bewahrheiten. Inzwischen rufen immer mehr Menschen an, denen es aufgrund der Pandemie wirklich entsetzlich geht. Die überhaupt nicht damit zurecht kommen, weil sie … keinerlei Kontakte mehr haben, sich verlassen und verloren fühlen … vor allem auf der emotionalen Ebene.“ Die Badbergerin spricht von zunehmender häuslicher Gewalt, überlasteten Jugendämtern und überforderten Lehrern.

Esther, psychologische Psychotherapeutin

„Was mich wirklich besorgt“ schreibt hingegen Designerin Diana, „ist die zunehmende Härte und soziale Kälte, die ich on- und leider auch manchmal offline beobachte.“
Und Pantomime und Krankenhausclown Christoph, hat keine Angst vor Corona. „Entweder, es erwischt mich … oder es erwischt mich nicht. Da bin ich recht unbedarft. Aber ich möchte natürlich einfach weiter leben.“

Amy, Schülerin

„Es wird mehrere Generationen dauern, bis sich die Menschheit von der Pandemie erholt hat“
Anne Knoke lässt in dem knapp einhundert Bilder und etwas über fünfzig Interviewpartner umfassenden Werk auch Kinder zu Wort kommen – so zum Beispiel Schülerin Amy: „Als das angefangen hat, hatte ich mega Angst, dass meine Eltern sich anstecken und sterben.“

Der zwölfjährige Viggo – Annes ältester Sohn – erzählt ziemlich resigniert: „Durch die Vereinsamung ist das Leben bei vielen kaputt. Deswegen glaube ich, dass es auch beim Miteinander mehrere Generationen dauern wird, bis sich die Menschheit da komplett von erholt hat … Jetzt sind alle deprimiert und vereinsamt und vor allem verschlossen. Da muss es erstmal einen Neuanfang geben.“

Viggo, Schüler und Sohn von Anne Knoke

Anne sagt, während des Interviews habe Viggo auch geweint. Welche Mutter lässt das kalt … ? Allein bei der Vorstellung, mein „großer“ Achtjähriger würde derartig weise, traurige Worte von sich geben, steigen mir wirklich die Tränen in die Augen.

Ehrlich gesagt habe ich lange überlegt, mit welchem Ende ich diesen Blog-Artikel versehen soll. Und komme zu dem Schluss: Es gibt kein wirklich passendes. Alles noch „Open End“, nicht wahr?
An dieser Stelle nur ein kleiner Appell: Lest die vollständigen Interviews gerne nach; ihr findet sie auf Annes Website www.trugbild.net. Und kauft ihr Buch, es lohnt sich. (Kontakt: bild@trugbild.net)
Danke, liebe Anne, für diese an- und berührende Dokumentation. Ich lieb‘ Dich, nicht nur dafür.

Eine Welt in zehn Minuten

iMist. Ich bin vier Minuten zu spät. Vor dem Abholen meiner beiden Bengelchen wollte ich im Raiffeisen-Markt eben noch ein paar Rollen „Gelbe Säcke“ besorgen. Vier Minuten … Ich bin ohnehin nicht besonders gut drauf, es treibt mir beinahe die Tränen in die Augen. Will denn heute gar nichts gelingen?

Es ist ein sehr warmer Junitag, 27 Grad, und morgen soll es sogar noch heißer werden. Ich bevorzuge 25 Grad. Da fühle ich mich wohl … Ich schiebe eine klebrige Haarsträhne von meiner Stirn und will wieder aufs Fahrrad steigen.

Eine alte, in einen feinen, hellen Anzug gekleidete Dame nähert sich mir. Ich schätze sie auf Ende siebzig oder vielleicht achtzig. „Ist da jetzt ernsthaft zu?“, höre ich sie sagen. „Ich habe dort drinnen eben meine Autoschlüssel auf dem Empfangstresen liegen gelassen. Das darf doch nicht wahr sein …“ Sie zeigt auf einen kleinen roten Peugeot auf der anderen Straßenseite.

Kurzentschlossen zücke ich mein Handy, googele die Telefonnummer und rufe im Markt vor uns an, vielleicht ist ja gerade noch jemand im Büro? Sehr wahrscheinlich ist es ja. Das Licht brennt jedenfalls noch … Aber: Leider habe ich keinen Erfolg und sage bedauernd zu der Dame: „Es tut mir leid, niemand da, wahrscheinlich alle schon in der Mittagspause.“

Sie trägt eine Maske, aber ich erkenne ein trauriges Glitzern in ihren Augen. „Ich bin so durch den Wind. Letzte Woche ist mein Sohn verstorben; ich bin 82, es ist furchtbar, wenn das Kind eher geht.“
Ich fühle ihr Leid, streiche ihr über den Arm und sage, wie gern ich sie jetzt umarmen würde, aber, naja, Corona …

Sie nickt. „Das ist so lieb. Und so selten.“ Ich wundere mich über diese Worte. Ist das nicht eine absolute Selbstverständlichkeit? „Die Leute wollen keine Trauer bei anderen sehen, sie können das Grauen nicht ertragen.“ Die Frau zuckt die Achseln. Darüber muss ich noch einmal in Ruhe nachdenken …

Sie bedankt sich für meine Bemühungen und erzählt: Der Sohn, etwa sechzig Jahre alt, sei geistig behindert gewesen, sie wäre bei seinem Sterben dabei gewesen, genau wie seinerzeit bei ihrem Mann, der mit 42 einem Hirntumor erlag. „Kurz vor dem Tod dachte er, er müsse sich noch einmal ausleben“, sie schaut bedrückt auf ihre beigen Lederschuhe. „Er hatte noch mal eine andere Frau, lebte etwas Jugend. Ich war zu Hause mit Tochter und Sohn und ertrug es irgendwie … Dann kehrte er zum Sterben zu mir zurück.“ Wir weinen. Zusammen.

Und dann platzt es aus mir heraus. Ich rede von einem derzeitigen, ganz anderen Dilemma, aus dem ich einfach nicht herauskomme. „Oh Gott, Kindchen. Das ist wirklich schwierig. Sie sind noch jung … Das Leben ist zu kurz … Hören Sie auf Ihren Bauch. Aber vergessen Sie bei allem den Verstand nicht. Lassen Sie sich Zeit und Raum, überstürzen Sie nichts. Wägen Sie sorgfältig ab.“ Natürlich hilft mir das jetzt nicht. Aber ich denke über die Weisheit des Alters nach, die mir schon so oft in meinem Leben begegnete …

Doch dann fügt sie mit einem schelmischen Augenzwinkern hinzu: „Und manchmal, Liebes, entscheidet auch das Schicksal!“ Auf einmal wirkt sie regelrecht heiter. „Ist so. Wirklich. Haben Sie Vertrauen.“
Ich muss leider los, P. und dann K. holen.
Eine ganze Welt in nur zehn Minuten …
Wir wünschen uns alles Gute. „Bitte fahren Sie gleich vorsichtig.“
Und jede geht wieder ihres Weges.

Ein kurzes Date

„Sehe ich denn wirklich überhaupt gar nicht so aus wie auf dem Foto hier?“ Die Frau ist sichtlich verzweifelt. Sie zittert, gleich wird sie das Weinen beginnen. Ich sehe es deutlich …

Es ist ein ziemlich stürmischer Frühlingssonntagnachmittag, wir vier sind zum Familienspazierengang und Windumdieohrenblasenlassen an die Nordsee gefahren.
Als wir einparken und ich gerade die Jungs aus dem Wagen lasse, um sie anzuziehen, hält in der Lücke neben uns eine Frau in etwa meinem Alter. Sie sieht fröhlich aus, nickt mir freundlich und lächelnd zu, ihre Bewegungen sind äußerst beschwingt. Dann ist sie auch schon verschwunden. Ich denke: Die ist gut drauf, schön. Und muss selbst grinsen.

Als unsere Bengelchen ihre Jacken, Mützen und Schals anhaben, ist die Frau wieder da …

Jetzt steht sie völlig aufgelöst neben mir und hält mir auf ihrem Handy das Bild von sich hin: Das Portrait einer Frau bis zu den Schultern. Ich vergleiche. Doch, ja, es sieht definitiv aus wie die kleine, etwas rundliche Frau mit dem hübschen Gesicht und den langen, blonden Haaren.

Was ist denn passiert, das sie derartig durcheinander brachte?
„Das war das kürzeste Date meines Lebens“, erzählt sie achselzuckend. „Ich war hier mit einem Online-Kontakt verabredet.“ Sie dreht sich weg, zeigt auf einen Mann, der gerade in seinen tiefergelegten BMW steigt. Dunkle Haare, nicht sehr groß (und nicht gerade attraktiv … aber das ist ja nun Geschmackssache).

Die Frau berichtet weiter. „Er hat mich von oben bis unten gemustert und mir dann direkt ins Gesicht gesagt, ich wäre nicht sein Typ und das Foto, das ich ihm über den Chat gesendet hätte, würde jemanden ganz anderes zeigen als mich.“ Jetzt weint sie tatsächlich ein bisschen. „Dabei bin ich über eine Stunde hergefahren, heute ist mein kinderfreier Tag. Den hätte ich auch anders nutzen können …“ Ich verstehe sie.

Ich kann nur zuhören, ihr über den Arm streichen. Und dann sagen: „Betrachten Sie es als natürliche Selektion. Unter uns: Der Typ ist ziemlich hässlich und hat Sie gar nicht verdient.“ Ich zwinkere ihr verschwörerisch zu. Ich bitte sie noch, vorsichtig zu fahren, als sie in ihr Auto steigt. Und dann ist sie auch schon wieder verschwunden, nur eben leider nicht mehr beschwingt.

Yogitee hat immer recht

Lange habe ich überlegt, ob ich das Folgende hier und jetzt veröffentlichen soll – so ganz echt und richtig konsequent ohne Passwortschutz. Und ich weiß eigentlich auch gar nicht so recht, wie ich etwas derart Komplexes überhaupt beschreiben soll …

Eine kürzlich von mir auf Facebook gestartete Umfrage zum Thema „Spricht man in der Öffentlichkeit über psychische Leiden?“ hat mich dann doch zum Ja bewegt. Genau wie die Aussage einer lieben Berliner Freundin: „Ja, es gehört doch zu uns.“ Zu uns? Ja, denn sie ist auch betroffen. Und „solche wie uns“ gibt es so viele  …

Einfacher macht mir den Einstieg in dieses, mein Thema heute auch der Yogitee, den ich gerade trinke, der mir die kalten Finger wärmt und das brennende Herz beruhigt: „Ein entspannter Geist ist kreativ“ lautet der tiefgründige Spruch auf dem Teebeutelanhänger. Beige Schrift auf braunem Untergrund. Sieht schön aus. Gestaltung und Geschmack schmeicheln meiner – auch „ästhetisch-empfindsamen“ – Seele.
Im Hintergrund läuft ein entspannendes Café-Del-Mar-Album. Ein etwas älteres. Eines von denen, die noch so richtig gut waren.

Yogitee hat immer recht
Ja, stimmt das? Ist ein entspannter Geist kreativer als ein unentspannter? Ich frage auch danach auf Facebook. Jemand antwortet mir dazu: „Der Yogitee hat immer recht“. Dieses Zitat eignet sich doch wunderbar für einen Buchtitel. (Danke für die heutige Inspiration, lieber Michael.)
Ich überlege. Ja, stimmt sicher. Irgendwie jedenfalls. Aber kann jemand nicht auch kreativ sein, der gerade nicht entspannt ist? Der vielleicht nie richtig „ent-spannt“ ist. Der vielleicht sogar dauerangespannt – ja sogar … bedrückt ist?

Und da ist er auch schon.  Mein Anfang. Der Einstieg.
Ich bin depressiv. Mit fiesen Panikattacken dann und wann. Jemand, der beim Anblick eines überfahrenen Vogels oder Igels schon weinen möchte (und es oft auch tut).
Melancholisch und nachdenklich beobachtend war ich schon als ganz kleines Mädchen, sagen meine Eltern. Sah mich meine Mutter bedrückt am Essenstisch sitzen und fragte, was denn los sei, konnte ich manchmal nur antworten: „Keine Ahnung, Mama. Ich habe wieder … ‚Heimweh‘ …“

Ich weiß gar so nicht recht, wann das angefangen hat mit der Krankheit. Ja, es ist eine Krankheit. Nicht unbedingt – so wird immer gern behauptet – wie jede andere auch (denn diese hier droht ab und zu Deine Seele zu verschlingen). Wahrscheinlich im Mutterleib, meine Mutter und deren Vater – ein Maler und Wortkünstler – neigen auch zu diesem Leiden. Ererbt also? Zu einem sehr großen Teil tragen allerdings auch diverse sehr unschöne Erfahrungen bei. Das kann ich schon mal mit Sicherheit sagen.

Ich kenne diese Gefühle also eigentlich schon mein Leben lang – mal mehr und mal wenig(er) heftig. Und beschreiben kann ich sie schon gar nicht. Nur darum bitten, sie anzunehmen, sie zu akzeptieren, sie bitte noch gesellschaftsfähiger werden zu lassen („salonfähig“, sagt meine Berliner Freundin). Denn eine Depression ist eine Krankheit wie jede andere auch. Nur, dass man sie eben nicht (sofort) sieht.

Heilung durch „Zusammenreißen“, Sport und Medikamente?
Die Krankheit, so heißt es, ist ein „Arschloch“. Stimmt, sie stinkt zum Himmel und haut sogar den stärksten Kerl um – oder eben die stärkste Frau. Wer noch nie wenigstens eine „depressive Episode“ im Leben durchgemacht hat, kann auch nicht nachvollziehen, was „Depression“ eigentlich bedeutet. Dabei bezeichnet der Begriff eigentlich schon ganz gut, was sie birgt: absolute Niedergeschlagenheit, gnadenlose Hoffnungslosigkeit, tiefschürfende Traurigkeit. Das Gefühl, nichts wird wieder gut … unbeschwert, beschwingt, heiter, lustig.

Bei mir dauert die aktuelle akute „Episode“ jetzt seit vergangenen Januar an. Es ist mal mehr und mal weniger schlimm. Ja, es gibt Mittel und Wege. Sport, Selbsthilfe, Medikamente … Aber ganz verschwindet diese Krankheit wohl nie. Sie ist ein Teil von mir. Ich lebe mit ihr.

Und ich wage jetzt den Schritt, darüber zu berichten. Warum mache ich das? Warum kehre ich mein Innerstes auf diese Weise nach außen? Bin ich denn bescheuert? Warum muss es im Internet sein? Was ist, wenn ich deshalb meinen Traumjob nicht bekomme … ? Und so weiter. Fragt mich ein Freund. Ich sei doch dermaßen angreifbar.
Na und? Eben weil: Es gehört zu mir!
Ich lasse das jetzt einfach mal so stehen.
Aber vielleicht zeigt es anderen Betroffenen ja, dass sie nicht allein damit sind. Vielleicht trauen sie sich ja auch, darüber zu reden/schreiben.
Vielleicht bringt es uns ja alle näher zusammen …
Vielleicht finden wir Akzeptanz.

Leben, lachen, fröhlich sein – mit der Depression
Dieser Blogeintrag hier wird ganz sicher keine Abhandlung zu einem Thema, dass man im Internet oder in Fachbüchern sehr gut recherchieren kann. Er ist eigentlich mein persönlicher „Befreiungsschlag“. Seht alle her, ich bin depressiv. Ich bin jetzt keine „anonyme Depressive“ mehr. Und dabei habe ich mein Leben fest im Griff, stehe mit beiden Beinen (außer, wenn ich zuviel tagträume ;-)) fest im Leben, habe Familie, trage Verantwortung, singe in einem Chor, kann fröhlich sein.

Mein kleines K. schläft gerade, mein großes P. ist im Kindergarten, ein waschechtes Vorschulkind – und plappert und plappert, wenn er wieder da ist. Ich habe jetzt also etwa anderthalb Stunden Zeit zum Schreiben und Arbeiten (was bei mir glücklicherweise das gleiche bedeutet). Zeit, um einen Artikel für ein Magazin zu beenden und hoffentlich diesen Blogeintrag. Danach muss Mutti an den Herd. Der Nachmittag gehört vollständig den Kindern. Wir wollen Herbstdekoration basteln. Also erst mal raus, Eicheln sammeln, Zierkürbisse besorgen, Laub bestaunen und so.

Ich habe einen wunderbaren „Job“ und viel Freude daran (ich meine jetzt nicht den als freie Journalistin, aber den liebe ich auch). Dennoch bin ich erschöpft. Sehne mich nach einer Auszeit. Natürlich gibt es nichts Schöneres als Kinder zu haben. Ohne Frage, was wäre ich unglücklich ohne meine Jungs! Das Leben wäre längst nicht mehr so bunt. Aber da ist eben auch diese ganz unglaubliche Fremdbestimmung … Jede Mama weiß, wovon ich spreche. Mütter, die das nicht kennen, sind entweder tiefenentspannt, auf Droge (an dieser Stelle bitte einen passenden Smiley einfügen) oder lügen. Das tun sie dann aber auch in anderen Lebenslagen.

Mein Mann  sagt, die Kinder würden nichts – oder zumindest nicht viel – von der Depression mitbekommen. Ich würde das alles prima hinbekommen. Was eigentlich? Mich zusammennehmen? Die Tage durchstehen?

Ich will, dass es aufhört.
Ich fühle mich welkig und allein mit diesem Mist – obwohl ich es natürlich nicht bin. Und fertig geworden mit diesem Post bin ich auch nicht … würde ich nie.
Vielleicht gesellt sich ja zur Depression auch die Midlifecrisis. Die ist ja aber auch nichts anderes als eine Form der blöden Krankheit.
Nachher im Gewusel mit den Kids und draußen in der Herbstsonne wird das bestimmt schon wieder anders sein. Ich werde mich besser fühlen. Dann wird wieder alles ziemlich gut sein. Die Luft, das Kinderlachen, die Farben …
Morgens und jetzt, vormittags, ist es am schlimmsten.
Ich will, dass es aufhört.

Heute habe ich leider kein lustiges  und positives Ende für euch. Leider. Aber vielleicht ja morgen wieder. Außer vielleicht: Wir leben noch. Und können doch einzig darüber schon mal absolut dankbar sein. Ein Sechser im Lotto ist nichts dagegen. 😉

Ich mache mir jetzt aber noch einen Yogitee und hoffe, dass die auf dem Anhängerchen zu lesende Weisheit mir dieses Mal etwas mehr Mut beschert. Sowas wie „Alles wird eben doch so richtig gut“.

Ein anderes Leben

Wie fange ich an mit einem Thema, das komplexer eigentlich nicht sein könnte? Am besten durch den direkten Einstieg: Vor fast einem Jahr, im August 2013, wurde ich Mama – von jetzt auf gleich ein komplett anderes Leben. Die Geburt verarbeiten, das Glück fassen und die krasse Veränderung erst einmal verdauen. Vierundzwanzig Stunden nonstop da sein, für einen Menschen, obwohl man vielleicht vorher das Gefühl hatte, doch selbst noch gar nicht erwachsen zu sein.
Eine Mischung aus Euphorie und Erschöpfung.

Keiner sagt Dir vorher, wie das läuft

Was nur Mütter wissen: Nichts und niemand bereitet Dich vorher auf ein Leben mit Kind vor – weder die Schwangerschaft noch diverse Erfahrungsberichte. Da sitzt Du noch als Hochschwangere vor einer Mutter mit zwei kleinen Kindern, die klagt, manchmal sei „alles soooo schwer“. Sie jammert herzzerreißend, sie könne manchmal einfach nicht mehr und würde den Mutterjob am liebsten an den Nagel hängen. Und dann passiert es. Der Zweijährige tut unerwartet etwas ganz Tolles; da schwärmt sie sich das Mark aus den Knochen. „Hast Du das gesehen!?“ Ruft sie plötzlich euphorisch und strahlt über beide Backen bis zu den Ohren – eine Seligkeit in ihren Gesichtszügen! Nicht zu fassen, denkst Du Dir, die kann man doch nicht ernst nehmen. Du hörst aber zu und grinst in Dich hinein. Na bitte, das kann doch so wild alles gar nicht sein. Man wächst schließlich mit seinen Aufgaben, muss nur vorbereitet sein, einfach nur lässig und entspannt genug.
Wie naiv ich doch war.

Keine Zeit mehr

Heute bin ich selbst Elter (ich finde, dass der Singular von „Eltern“ ein ziemlich blödes Wort ist). Und heute erst kann ich verstehen, warum alle meine Mutter gewordenen Freundinnen sich nicht mehr oder nur noch selten blicken ließen – und wenn, dann nur noch kurz. Nicht einmal mehr die Zeit für ein „Hallo“ in den sozialen Netzwerken fanden. Fand ich das damals doof, ich konnte es einfach nicht verstehen, Zeit für ein „Hallo“ musste doch sein! Soviel kann man doch als Neumutter gar nicht zu tun haben. Das Baby schläft doch fast nur, dann weint es, dann trinkt es, dann kackt es …
Ich kann es nur wiederholen: Wie naiv ich doch war!

Warum wir „Erstlingsmütter“ keine Zeit haben: Es gibt einen immer schwankenden, ganz individuellen Baby-Rhythmus, den es einfach einzuhalten gilt. Wenn man das denn möchte, aber meist möchte man, denn man ist dankbar, dass es überhaupt mal eben kurz einen Rhythmus gibt. Und der Rest der Begründung ist jetzt zu schwierig zu erklären. Darüber kann man (frau) Romane schreiben. Die gibt es aber auch schon. Einmal abgesehen davon kann ich das Wort „Rhythmus“ im Zusammenhang mit Babys nicht mehr hören. Gib dem Kind nach Bedarf: Essen, Trinken, Schlaf … Es fügt sich alles ganz von selbst.

Einfach alles ändert sich

Totale Verantwortung für einen anderen Menschen. Eine ehrenvolle Aufgabe, zweifelsohne. Glück pur, ganz klar. Aber dann sind da auch noch all die Dinge, die im vorgeburtlichen Leben ebenfalls einfach unvorstellbar, weil schlichtweg unerfahren, sind.

Unglaubliche Müdigkeit: Nein, Stress im Job ist wirklich nichts dagegen, wirklich nicht, versprochen. „Was hast Du denn, Du siehst doch gut aus.“ Es schwingt mit: „So schlimm kann das doch nicht sein.“ Tja, der (weibliche) Körper gewöhnt sich eben an alles. Auch an Schlafentzug. Er wird in der ersten Zeit sogar noch vor dem Kind wach, kurz bevor es seinen Hunger zeigt. Was für eine faszinierende Verbindung.

Gnadenlose Angst (nicht nur bei der Erstlingsmama, sondern auch beim Erstlingspapa): Wird dieses Kind die ersten Wochen und Monate überleben? Werde ich das alles schaffen oder kläglich versagen? Und dann liegst oder sitzt Du nachts da, neben diesem kleinen, wunderschönen Wesen und hörst auf jeden Atemzug. Du hast Angst, einzuschlafen. Was, wenn etwas passiert? Hoffentlich erstickt er nicht. Hast Tränen in den Augen, manchmal steigt eine Art Panik auf. Hör auf mit dem Quatsch, da passiert nichts. Und doch bleibt die Sorge. Und … sie bleibt und bleibt? Bleibt sie für immer? Ich vermute nach nur zehn Monaten: ja.

Ich bin nur eine von Abermilliarden und noch mehr Müttern auf dieser Welt, die das (und noch viiiiiel mehr) durchmachen. Und es geht weiter: Wenn das Kind auf einmal die Brust verweigert (niemand hat Dir gesagt, dass es „Stillstreiks“ gibt),  sich an einer Dinkelstange verschluckt (nur wenige Kinder ersticken tatsächlich daran, die allermeisten haben ganz tolle Reflexe; aber niemand hat es Dir gesagt),  Dir den Brei um die Ohren schmeißt (und Du nach dem gefühlt tausendsten Mal richtig wütend wirst und Dich beherrschen musst, weil Du Karotte und Kartoffel im Haar jetzt mal so richtig satt hast). Dein Küchenboden wird womöglich für immer klebrig bleiben. Dein Mann sagt: Ist doch nicht schlimm. Und genau das bringt dann das Fass zum Überlaufen. Du heulst und sagst: Ich will mein Leben zurück! (Und natürlich hast Du die Zeit, Dir kurz die Haare zu waschen oder Dir mal wieder die Nägel zu schneiden. Du hast nur gerade üüüberhaupt keine Lust dazu und willst einfach nur irgendwo sitzen.)

Grenzenlose Liebe: Wenn Dein Kind Dich das erste Mal anlacht, wenn es zum ersten Mal Deine Hand nimmt, wenn es sich im Schlaf an Dich kuschelt … Wenn es sich freut. Mit dem ganzen Körperchen, mit den Ärmchen wedelnd und gieksend. Unbändige, ehrliche, reine Freude. Dir geht das Herz auf. Du schmilzt dahin, auf diese Art hast Du noch nie geliebt … Mutter sein ist wunderbar. Es ist aber auch sehr anstrengend. Und manchmal ist es auch wunderbar anstrengend. Aber immer hübsch daran denken: Alles ist nur eine Phase. Die mehr oder weniger lange dauert. Auf Regen folgt bekanntermaßen Sonnenschein. Und auf den dann wiederum der Regen. Den Dein süßestes Baby der Welt mit riiiiiesigen Kulleraugen staunend mit den Händchen zu fassen kriegen möchte … Darauf einen Seufzer der Verliebtheit.

Das andere Leben

Neulich begegnete ich beim Einkaufen einer Frau mit achtzehn Monate alter Tochter. Sie schaute meinen Sohn an: „Bin ich froh, dass wir da durch sind.“ Ich so: „Wie?“ – „Na, das war ganz schön anstrengend!“ Ach so. Ich habe zwar nicht die leiseste Ahnung, was da noch folgen wird, aber: Das kann ich gut so für mich bestätigen. Ich fand und finde die Babyzeit wirklich unglaublich kräftezehrend. Ich stoße an meine Grenzen, in jede nur erdenkliche Richtung. Mein Sohn kitzelt das Beste, aber auch das Schlechteste aus mir heraus. Und nur er schafft das. Ein Baby.

Mutter ist man nicht, Mutter wird man. Davon bin ich jetzt überzeugt. Vor der Geburt dachte ich, ich würde mich verändern. Aber ich bin immer noch ich.
Nur, dass ich jetzt eben Mutter bin. Und jetzt wirklich weiß, was ein „Wechselbad der Gefühle“ ist.
Und mein innig geliebtes Kind niemals missen möchte.