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Warum meine Kids nicht „alles“ haben dürfen

Vor Weihnachten dreht sich bei meinen beiden Kids vieles um mögliche Geschenke und den Wunschzettel. Und der wird gefühlt täglich überarbeitet … Dabei sollte es sich beim Fest der Liebe doch um ganz andere, nicht-materielle Dinge drehen – oder?

Jeden Tag ein anderer Wunsch

Zwei Wunschzettel liegen auf meinem Schreibtisch, einer zum Teil voller durchgestrichener Worte, einer mit Abbildungen aufgrund noch fehlender Schreibfähigkeiten. „Mama, ich wünsche mir doch lieber die Eisenbahn“, informiert mich mein Neunjähriger, als er in mein Arbeitszimmer huscht und sich wieder an seinem Schriftstück zu schaffen macht. Gestern war es noch etwas völlig anderes, aber „ich kann mich einfach nicht entscheiden.“

„Eins zu Weihnachten, eins zum Geburtstag“

Der Sechsjährige tut sich nicht ganz so schwer, er weiß „schon seit Tagen“, was er gerne hätte. Er sieht es total pragmatisch: „Mama, das andere wünsche ich mir dann zu meinem Geburtstag.“ Clever. P. schaut seinen kleinen Bruder prüfend an. „Gute Idee, K.! So mache ich das auch. Dann können wir ja beide Sachen bekommen.“ Tja, „Not“ macht eben erfinderisch. (Wo ist das Schulterzuck-Emoji?)

Vorfreude – die schönste Freude?

Dass meine Kinder nicht „alles“ haben können, dürfen und sollen, steht wieder auf einem anderen Blatt geschrieben: Ich erinnere mich daran, wie meine Eltern früher stets predigten: „Du solltest deine Spielsachen wertschätzen lernen, sie sind keine Selbstverständlichkeit. Es sind Luxusgüter, auch, wenn dir das nicht so vorkommt. In vielen Orten dieser Welt haben Kinder nicht einmal ein ganz kleines Spielzeug. Alles kostet Geld, und das müssen wir uns erst einmal erarbeiten.“

Das konnte ich verstehen, es leuchtete mir ein. „Außerdem“, so Mama und Papa, „wenn Du gleich alles hast, kannst du dich doch gar nicht mehr so freuen. Und gerade die Vorfreude ist doch so schön.“

Ihr könnt nicht „alles“ haben

Darüber habe ich als Mädchen lange nachdenken müssen und fand damals: Irgendwie hatten sie damit recht. Und es stimmte ja auch: Meine Spannung bis zum Fest stieg stetig.

Diese Denkweise meines Vaters und meiner Mutter habe ich in mein Mamasein übernommen und schon früh versucht, auch meinen Kindern zu vermitteln. Irgendwann hatte ich es geschafft, meine Bengelchen zu überzeugen: Vorfreude? Ja, ist toll. Nicht alles haben können? Nicht so toll, aber es ist nun einmal so.

Überforderung durch ein Zuviel

An Weihnachten vor einigen Jahren feierten wir bei Verwandten; für die Jungs gab ungewöhnlich viele Geschenke. K. – damals gerade einmal vier Jahre alt – rannte wie besessen von einem Päckchen zum nächsten. „Noch mehr auspacken!“ Daran erinnert sich auch mein Viertklässler noch heute sehr genau: „Mama, da hatte ich so viel, dass ich gar nicht wusste, womit ich mich zuerst beschäftigen soll, ich war total überfordert!“

Wertschätzung, Geduld – und Fantasie

Ich bin mir darüber im Klaren, wie wichtig Spielsachen für Kinder sind beziehungsweise sein können, versteht mich da bitte nicht falsch. Und ich weiß auch, wie stark Spielfiguren und Puppen und kindliche Identifikation zusammenhängen (können).

Aber: Wie können unsere Kinder Fähig- und Fertigkeiten wie Konzentration, Geduld und Wertschätzung erlernen und ausbauen, wenn sie mit Präsenten überschüttet werden? Denn genau darum geht es in meinen Augen doch: sich auf etwas einlassen können, sich damit auseinandersetzen, sich vertiefen – und ganz fantasievoll darin aufgehen.

Dieser Text erschien erstmals hier.
Foto: Schwägerlein Toni Polkowski

Wenn Kinder „es“ wissen wollen …

Ich weiß gar nicht mehr genau, wann das eigentlich angefangen hat mit „der Fragerei“. War P. da sechs oder sieben Jahre alt? Ich kann mich wirklich nicht an sein genaues Alter erinnern, an die konkrete Frage hingegen schon. „Mama, woher kommen die Babys?“

Meine Antwort war kurz, aber anscheinend erst einmal gut genug: „Wenn ein Mann und eine Frau sich körperlich lieben, kann es passieren, dass die Frau schwanger wird.“ Ich sehe seine kugelrunden Augen noch vor mir, sein fragendes Gesicht. Stellte er sich jetzt zwei umarmende Erwachsene vor? Die vielleicht wild herumknutschen und sich berühren? Geschürzte Lippen bei meinem Kind – dann rannte er wieder davon, sein Lego wartete schließlich … Als er dann etwas älter war, vielleicht so acht, wollte er es ganz genau wissen – und so „packte ich dann mal aus“ (schönes Wortspiel in diesem Zusammenhang, nicht wahr?) …

„Kindern die Scheu vor Fragen nehmen“
Ach: Übrigens hatte ich mich kürzlich – diese Kolumne zum Anlass nehmend – einmal in den sozialen Medien bei den anderen Eltern umgehört, wie die „das“ mit der Aufklärung denn so handhaben. Erstaunlicherweise erhielt die Anfrage an sich viele Likes, kommentiert hat dann jedoch tatsächlich nur Frank G. aus Baden-Württemberg – Vater vierer Kinder. Aber was er zu sagen hat, ist wichtig, zählt im Prinzip doppelt: „Wir sollten den Kindern die Scheu vor dieser Art von Fragen nehmen, offen und ehrlich antworten – natürlich auf dem jeweiligen Niveau des Kindes.“ Kann ich persönlich nur unterstreichen.

Geschlechtsteile und „der Akt“
Und wie habe ich „das mit der Aufklärung“ nun gemacht? Zunächst einmal beschrieb ich meinem damals etwa achtjährigen Sohn etwas genauer die primären und sekundären Geschlechtsorgane von Jungen und Mädchen, von Männern und Frauen – und wie diese sich im Laufe der Zeit verändern. Das fand er spannend und stellte noch so diese oder jene Frage zu den jeweiligen anatomischen Besonderheiten des weiblichen und männlichen Geschlechts. Als ich zum „Akt“ an sich kam – Ge-schlechts-ver-kehr! (Hähä!) – runzelte er etwas die Stirn. Das wiederum brachte nun mich zum Lachen, und so erklärte ich beschwichtigend: „Ja, das klingt ein bisschen seltsam, ich weiß. Und ich kann mich noch daran erinnern, wie verwirrt ich damals war, als ich das erfuhr – aber neugierig wie Du jetzt! Glaub mir einfach, wenn ich Dir sage: Sex ist schön und macht Spaß.“

„Wahrheit oder Pflicht?“
Inzwischen weiß ich natürlich von P.s Berichten aus der Schule, wie „heiß“ es unter den neun- und zehnjährigen Grundschüler:innen bezüglich dieses Themas zugehen kann – und bin froh, dass er „Bescheid“ weiß. (Ausgrenzung ist ja auch wieder so ein Thema für sich … *seufz*)
Unwissend inmitten einer Horde präpubertärer Kids? Oh oh … (genau, ihr wisst schon, was ich meine). Und dann gibt es da ja auch noch Spielchen wie „Wahrheit oder Pflicht?“. (An dieser Stelle verdrehe ich einfach nur mal demonstrativ die Augen, ja?)

Sex – eines der schönsten Dinge der Welt
Hat Frank dazu noch etwas Hilfreiches zu sagen? Auf jeden Fall dies: „Ich sage meinen Kindern auch, dass sich Gefühle im Lauf des Erwachsenwerdens verändern und dass Sex für mich etwas ist, das mit dem Austausch von Gefühlen und Zärtlichkeit zu tun hat. Und dass die Art, wie sich Mama und Papa lieben, doch etwas anders ist als unseren Elternliebe für sie.“ Und – ganz wichtig: „Dass Sex zu den schönsten Dingen der Welt zählt.“
Ja, denke ich, genau so, prima! Und: Schade eigentlich, dass die „Fortpflanzung“ – Sex, Sex, Sex! – noch immer so ein schambehaftetes Tabuthema ist. Wie viel offener könnte eine Gesellschaft sein, gingen wir unseren Kids gegenüber damit unverkrampfter – und natürlicher! – um?

Zwischen Faszination, Freude und Furcht – wie es ist, ein Papa zu sein


Ein Vater berichtet aus seinem Alltag mit drei Töchtern

Wie fühlt es sich eigentlich an, Vater zu sein? Was ist toll dran und was eher nicht so? Was treibt so ihn um – und an?
Kürzlich hatte ich einen richtig tollen Papa im Interview: Thomas, 41 Jahre alt, freier Autor von Hörspielen, Hörbüchern, Romanen und gegenwartsliterarischen Texten aus Geesthacht – und war ehrlich überrascht von seinen aufrichtigen Antworten auf meine doch ziemlich persönlichen Fragen.

Thomas, Du bist gerne Papa. Oder?
Ja, meistens. Meine Frau und ich haben zwei Pflegetöchter mit starken Bindungsstörungen im Alter von zwölf und elf Jahren sowie ein leibliches Kind, ein Mädchen von vier Jahren. Sie sind alle drei grundverschieden, das ist spannend: Während die eine total strebsam ist, nimmt die andere Manches gerne auf die leichte Schulter und glaubt, das Glück stets auf ihrer Seite zu haben. Und unsere Kleinste entdeckt und erkundet gerade die Welt. Die jeweiligen Entwicklungen der Kinder zu beobachten und zu erleben, das ist natürlich klasse und ein echtes Privileg.

Gibt es neben all der Faszination und Freude auch Dinge, die Dir als Vater Angst machen?
Na klar, alle Eltern haben doch so ihre Sorgen. Ich bin so stolz auf meine Mädchen und glücklich, sie zu haben. Aber da ist auch immer mal mehr und mal weniger unterschwellig die Urangst, ihnen könnte etwas geschehen – oder sie könnten an die „falschen“ Leute geraten. Obwohl ich der Meinung bin, sie müssen viele Erfahrungen selbst machen, möchte ich sie doch immer wieder beschützen und behüten.

Wie gehst Du mit dieser Sorge um?
Ehrlich gesagt ist es eine Gratwanderung zwischen: sie „einsperren“ wollen und sie allein in die Welt hinaus gehen lassen.
Vielleicht erzähle ich an dieser Stelle eine kleine Anekdote, um es etwas verständlicher zu machen: Ich war mit einigen Kumpels unterwegs. Es kam eine junge Frau auf uns zu, sehr attraktiv. Meine Ehefrau war zu diesem Zeitpunkt hochschwanger mit unserem dritten Mädchen. Meine Kumpels so über die Fremde: „Wow, was für ein Geschoss!“ Und so weiter. Da dachte ich nur: „Auf solche Typen wird eine unserer Töchter auch mal stoßen.“ Andererseits sind meine Kumpels allesamt selbst tolle Väter und prima Ehemänner. Dennoch: Für mich fühlt es sich an wie ein Tanz auf dem Vulkan.

Verstehe. Und sie werden so schnell groß, unsere Kids, nicht wahr? Wie geht es Dir damit?
Es ist doch verrückt oder? Mir fällt da ehrlich gesagt immer Reinhard Mey mit seinem Song „Kleines Mädchen“ ein. Er beschreibt darin, wie sein kleines Mädchen gestern noch Schutz auf seinem Schoß suchte und heute als junge Frau bereits Bänder im Haar hat. Es trifft mich immer wieder und macht mich glücklich und traurig zugleich. Meiner Frau geht das übrigens auch so.

Ja, alles hat eben mindestens zwei Seiten … Da werden wohl die allermeisten Eltern wehmütig. Darf ich fragen, wie es um eure Paarbeziehung steht, seit ihr Kinder habt?
Wir sind seit 21 Jahren ein Paar, meine Frau war zum Zeitpunkt unseres Kennenlernens gerade einmal 18 und ich 20 Jahre alt. Das ist natürlich eine lange Zeit zusammen. Sie ist Lehrerin und Künstlerin, es ist unglaublich, was sie alles auf die Beine stellt. Als Team sind wir wirklich spitze, ziehen an einem Strang und haben gemeinsame Ziele …

Höre ich da ein „Aber“ heraus?
Naja, wir haben offen gestanden kaum Zeit für uns beide – und uns wahrscheinlich deshalb etwas aus den Augen verloren – auch sexuell. Das macht mich ziemlich traurig. Wir Eltern bauen uns leider immer wieder eigene Gefängnisse und vergessen, wie man die Türen öffnen kann: Die Miete muss gezahlt werden, die Kinder haben Hunger, wollen spielen und beschäftigt werden … Meine Frau möchte malen, ich möchte auf Konzerte oder reisen. Hach, da sind viele Bedürfnisse, die da aufeinanderprallen. Wir haben uns selbst Ketten angelegt, die wir wachsen lassen, um es einmal mit Charles Dickens zu sagen.

Ich glaube, das geht doch aber den meisten Menschen in Langzeitbeziehungen so – nicht nur denen mit Kindern. Oder?
Ja, das denke ich auch. Leider. Eine Patentlösung gibt es da wohl nicht. Jedes Paar muss selbst schauen, wohin es der Weg führt. Oder was meinst Du?

Mhm … ja. Zum Glück bin ich heute nur die Fragestellerin … Ich sage nur „Coolidge“ … Wollen wir das einmal so stehen lassen?
Gern. Es ist nun einmal so.

Danke, lieber Thomas, für das offene Gespräch.
Besten Dank zurück, gern wieder.

Faces in Times of Corona (oder: Gesichter und Geschichten einer Pandemie)

„Liebe Anja“, beginnt meine Münsteraner Freundin Anne Knoke ihre Widmung im selbst gestalteten und herausgegebenen Bildband „Faces in Times of Corona“, „hier ist es nun, das Buch dieser merkwürdigen Zeit …“
Dann folgen sehr persönliche Worte an und für mich, aber „merkwürdige Zeit“ trifft es. Trifft mich. Und das immer wieder, wenn ich ernsthaft darüber nachdenke.

„Was bewegt Dich?“
„Als Corona anfing …“, lautet Annes erster Satz, wenn sie einen Interviewpartner für ihr Fotoprojekt „Faces in Times of Corona“ vor die Kamera holt. Sie lässt die Protagonisten dann eigenständig diesen Satz beenden – und drückt dabei ein paar Mal auf den Auslöser. Auf den nächsten Satz, auf die nächsten Worte folgt der nächste Shoot – und manchmal sprudelt es dann förmlich aus den Menschen heraus.
„Die ersten Gesprächspartner kamen aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis, später auch aus anderen Städten und Regionen Deutschlands.“ Die essentiellen Fragen an alle Teilnehmenden: Wie geht es Dir jetzt in der Pandemie-Zeit? Was machst Du, was bewegt Dich?

„Ich wusste: Es wird eine langwierige Sache“
Gedanken und Gefühle, Sorgen und Ängste, Beklemmungen und Hoffnungen: All die möchte Anne gern erfahren und in Wort und Bild für die Zukunft festhalten: „Ich dachte mir Anfang des Jahres 2020 schon, dass das eine langwierige Sache wird“, schreibt sie mir im Chat. „Und jetzt haben wir bald März 2022 …“ Ich spüre ihr Achselzucken förmlich und bis hierher. Sie ahnte es bereits zu einem Zeitpunkt, zu dem viele andere noch an ein recht kurzes „Ende mit Schrecken“ glaubten.

Ihre wunderbaren Interviews und berührenden Fotografien postet Anne anfangs in den sozialen Medien und auf ihrer Website. Sie nennt die Serie „Faces in Times of Corona“, wörtlich übersetzt: Gesichter in Zeiten von Corona.
Die Resonanz auf das Projekt ist sehr gut, immer mehr Menschen möchten der inzwischen 43-Jährigen gern Rede und Antwort – und vor allem: Porträt – stehen. So viele Interviews und Bilder kommen auf diese Weise zusammen, dass die Mutter dreier Kinder beschließt, alle in einem Buch zusammenzuführen und vor allem die Fotografien wirken zu lassen – neben einzelnen aussagekräftigen Zitaten. Anne dokumentiert zunächst einmal ab März 2020 und bis Mai 2021 – über ein Jahr Pandemie.

Christoph, Clown und Pantomime

„Entweder, es erwischt mich … oder nicht.“
Während ich das Buch durchblättere, um hier mal mehr und dort noch mehr hängenzubleiben, stelle ich wieder einmal fest: Menschen sind so vielschichtig wie das Leben selbst – ihr Erscheinungsbild, offensichtliche Charaktere, Ansichten …

Esther ist psychologische Psychotherapeutin. Sie weiß um die seelische Not mancher Menschen in Zeiten von Corona. „Ich habe von Anfang an schon mit Schrecken daran gedacht, was das für soziale Folgen haben wird. Und das scheint sich jetzt zu bewahrheiten. Inzwischen rufen immer mehr Menschen an, denen es aufgrund der Pandemie wirklich entsetzlich geht. Die überhaupt nicht damit zurecht kommen, weil sie … keinerlei Kontakte mehr haben, sich verlassen und verloren fühlen … vor allem auf der emotionalen Ebene.“ Die Badbergerin spricht von zunehmender häuslicher Gewalt, überlasteten Jugendämtern und überforderten Lehrern.

Esther, psychologische Psychotherapeutin

„Was mich wirklich besorgt“ schreibt hingegen Designerin Diana, „ist die zunehmende Härte und soziale Kälte, die ich on- und leider auch manchmal offline beobachte.“
Und Pantomime und Krankenhausclown Christoph, hat keine Angst vor Corona. „Entweder, es erwischt mich … oder es erwischt mich nicht. Da bin ich recht unbedarft. Aber ich möchte natürlich einfach weiter leben.“

Amy, Schülerin

„Es wird mehrere Generationen dauern, bis sich die Menschheit von der Pandemie erholt hat“
Anne Knoke lässt in dem knapp einhundert Bilder und etwas über fünfzig Interviewpartner umfassenden Werk auch Kinder zu Wort kommen – so zum Beispiel Schülerin Amy: „Als das angefangen hat, hatte ich mega Angst, dass meine Eltern sich anstecken und sterben.“

Der zwölfjährige Viggo – Annes ältester Sohn – erzählt ziemlich resigniert: „Durch die Vereinsamung ist das Leben bei vielen kaputt. Deswegen glaube ich, dass es auch beim Miteinander mehrere Generationen dauern wird, bis sich die Menschheit da komplett von erholt hat … Jetzt sind alle deprimiert und vereinsamt und vor allem verschlossen. Da muss es erstmal einen Neuanfang geben.“

Viggo, Schüler und Sohn von Anne Knoke

Anne sagt, während des Interviews habe Viggo auch geweint. Welche Mutter lässt das kalt … ? Allein bei der Vorstellung, mein „großer“ Achtjähriger würde derartig weise, traurige Worte von sich geben, steigen mir wirklich die Tränen in die Augen.

Ehrlich gesagt habe ich lange überlegt, mit welchem Ende ich diesen Blog-Artikel versehen soll. Und komme zu dem Schluss: Es gibt kein wirklich passendes. Alles noch „Open End“, nicht wahr?
An dieser Stelle nur ein kleiner Appell: Lest die vollständigen Interviews gerne nach; ihr findet sie auf Annes Website www.trugbild.net. Und kauft ihr Buch, es lohnt sich. (Kontakt: bild@trugbild.net)
Danke, liebe Anne, für diese an- und berührende Dokumentation. Ich lieb‘ Dich, nicht nur dafür.

Eine Welt in zehn Minuten

iMist. Ich bin vier Minuten zu spät. Vor dem Abholen meiner beiden Bengelchen wollte ich im Raiffeisen-Markt eben noch ein paar Rollen „Gelbe Säcke“ besorgen. Vier Minuten … Ich bin ohnehin nicht besonders gut drauf, es treibt mir beinahe die Tränen in die Augen. Will denn heute gar nichts gelingen?

Es ist ein sehr warmer Junitag, 27 Grad, und morgen soll es sogar noch heißer werden. Ich bevorzuge 25 Grad. Da fühle ich mich wohl … Ich schiebe eine klebrige Haarsträhne von meiner Stirn und will wieder aufs Fahrrad steigen.

Eine alte, in einen feinen, hellen Anzug gekleidete Dame nähert sich mir. Ich schätze sie auf Ende siebzig oder vielleicht achtzig. „Ist da jetzt ernsthaft zu?“, höre ich sie sagen. „Ich habe dort drinnen eben meine Autoschlüssel auf dem Empfangstresen liegen gelassen. Das darf doch nicht wahr sein …“ Sie zeigt auf einen kleinen roten Peugeot auf der anderen Straßenseite.

Kurzentschlossen zücke ich mein Handy, googele die Telefonnummer und rufe im Markt vor uns an, vielleicht ist ja gerade noch jemand im Büro? Sehr wahrscheinlich ist es ja. Das Licht brennt jedenfalls noch … Aber: Leider habe ich keinen Erfolg und sage bedauernd zu der Dame: „Es tut mir leid, niemand da, wahrscheinlich alle schon in der Mittagspause.“

Sie trägt eine Maske, aber ich erkenne ein trauriges Glitzern in ihren Augen. „Ich bin so durch den Wind. Letzte Woche ist mein Sohn verstorben; ich bin 82, es ist furchtbar, wenn das Kind eher geht.“
Ich fühle ihr Leid, streiche ihr über den Arm und sage, wie gern ich sie jetzt umarmen würde, aber, naja, Corona …

Sie nickt. „Das ist so lieb. Und so selten.“ Ich wundere mich über diese Worte. Ist das nicht eine absolute Selbstverständlichkeit? „Die Leute wollen keine Trauer bei anderen sehen, sie können das Grauen nicht ertragen.“ Die Frau zuckt die Achseln. Darüber muss ich noch einmal in Ruhe nachdenken …

Sie bedankt sich für meine Bemühungen und erzählt: Der Sohn, etwa sechzig Jahre alt, sei geistig behindert gewesen, sie wäre bei seinem Sterben dabei gewesen, genau wie seinerzeit bei ihrem Mann, der mit 42 einem Hirntumor erlag. „Kurz vor dem Tod dachte er, er müsse sich noch einmal ausleben“, sie schaut bedrückt auf ihre beigen Lederschuhe. „Er hatte noch mal eine andere Frau, lebte etwas Jugend. Ich war zu Hause mit Tochter und Sohn und ertrug es irgendwie … Dann kehrte er zum Sterben zu mir zurück.“ Wir weinen. Zusammen.

Und dann platzt es aus mir heraus. Ich rede von einem derzeitigen, ganz anderen Dilemma, aus dem ich einfach nicht herauskomme. „Oh Gott, Kindchen. Das ist wirklich schwierig. Sie sind noch jung … Das Leben ist zu kurz … Hören Sie auf Ihren Bauch. Aber vergessen Sie bei allem den Verstand nicht. Lassen Sie sich Zeit und Raum, überstürzen Sie nichts. Wägen Sie sorgfältig ab.“ Natürlich hilft mir das jetzt nicht. Aber ich denke über die Weisheit des Alters nach, die mir schon so oft in meinem Leben begegnete …

Doch dann fügt sie mit einem schelmischen Augenzwinkern hinzu: „Und manchmal, Liebes, entscheidet auch das Schicksal!“ Auf einmal wirkt sie regelrecht heiter. „Ist so. Wirklich. Haben Sie Vertrauen.“
Ich muss leider los, P. und dann K. holen.
Eine ganze Welt in nur zehn Minuten …
Wir wünschen uns alles Gute. „Bitte fahren Sie gleich vorsichtig.“
Und jede geht wieder ihres Weges.